Nummer 34 | Der Beobachter
an der Elbe. Unterhaltungsblätter für Jedermann. Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden. 2. Jahrg. Wanda. Novelle von Karl May. |
26. Juni 1875 |
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»Ja. Bestelle ihn heute Abend in unseren Gasthof; Du kannst mitkommen und ihm einen Wink geben, wenn ich hinausgehe; denn ich kenne ihn nicht persönlich. Welchen Erfolg hat Deine Anzeige in Betreff des Felsenbruches gehabt?«»Keinen. Man hat es vermeintlich mit einem Baron zu thun, und ein solcher ist bekanntlich nur zu Gutem befähigt. Zudem logirt er, wie Du weißt, bei dem Polizeirathe, Grund genug, die Sache todt zu schweigen, obgleich es sich dabei um die Genugthuung für eine Dame handelt, welche mit mehr Recht als er den höheren Ständen angehört.«
»Hast Du mit dem Stadtrichter seit jenem Tage wieder einmal gesprochen?« »Ja.« »Was sagte er?« »Er meinte: ›Mein lieber Herr Winter, ich erkenne Ihren Eifer dankbar an; aber Sie müssen bedenken, daß Ihr Verdacht von dem Umstande, daß der Herr Baron der Verlobte von Fräulein von Chlowicki ist, vollständig überwogen wird.‹« »Und was antwortetest Du ihm?« »Ich hielt es für überflüssige Mühe, ein Wort zu entgegnen, zumal ich Deine Ankunft erwartete. In Deiner Hand ist diese Angelegenheit besser aufgehoben, als in derjenigen der hiesigen Polizei.« »Du traust mir zu viel zu. Ich bin ein Subalternbeamter und darf nicht selbstständig handeln. Zudem befinde ich mich hier auf einem Terrain, wo mein Amt aufgehört hat, mir wenigstens einige Macht oder einige Rechte zu verleihen.« »Ja, was dann? Soll der Baron, wenn er wirklich, wie ich vermuthe, ein Verbrechen beabsichtigte, straflos ausgehen? Sogar die Polin mißtraut ihm, wie ich aus der Taschentuchscene ersehen habe.« »Wir werden ja sehen. Ich befinde mich in meiner jetzigen Stellung nicht wohl und werde chanciren, wenn nicht endlich die so lang erwartete und zehnmal schon verdiente Beförderung eintritt. Ich riskire also Wenig oder Nichts, wenn ich hier va banque spiele. Gewinne ich, so wird die Beförderung da sein; verliere ich, so habe ich weiter nichts auf's Spiel gesetzt als nur Das, was ich früher oder später freiwillig weggeworfen hätte.« »Ich wünsche nicht, daß Du Dir Schaden thust, obgleich ich überzeugt bin, daß der Baron ein Verbrecher ist.« »Ich werde die Sache vorsichtig untersuchen, ehe ich einen entscheidenden Schritt thue. Vor allen Dingen muß ich den Ueberrock sehen, und für das Uebrige bin ich gewohnt, nächst meiner Aufmerksamkeit dem Zufalle das Meiste zu überlassen. Was bedeutete denn Dein sonderbares Gespräch mit der Polin vorhin?« »Welches?« »Du wiesest ihren Dank ab und fordertest sie auf, Dir zu zürnen.« »Eine kleine, halb scherzhafte, halb ernste Plänkelei.« »Die jedenfalls ihren Grund hat.« »Möglich.« »Einen Grund, den ich gern wissen möchte.« »Wird Dir nicht viel nützen, Bruder.« »Mir nicht, aber vielleicht Dir. Wenn meine Thätigkeit von Erfolg sein soll, so muß ich Dein Verhältniß zu den einzelnen Personen bis in's Genauste kennen lernen. Also beichte!« »Es geht nicht!« »Warum nicht? Bin ich ein so strenger Beichtvater, daß Du schon bei meiner bloßen Aufforderung die Augen niederschlägst? Oder ist Deine Sünde so groß, daß Du Dir lieber von ihr das Herz abdrücken lässest, als daß Du mir ein aufrichtiges Wort sagst?« »Ich bin mir über das, was Du wissen willst, selbst noch zu sehr im Unklaren, als daß ich Dir Mittheilung davon machen könnte.« »Aber diese mangelnde Klarheit kommt sehr oft mit dem Sprechen. Ich werde mit dem Schwerte meiner Zunge den Knoten zerschneiden, welcher Deine Aufrichtigkeit gefangen hält.« »Laß das!« »Nein! Es ist meine Pflicht als Bruder, Dir die Augen zu öffnen, um Dich vor dem Uebel, welches Dir droht, zu bewahren. Dein Brief hat mir, so leicht und kurz er auch über den Gegenstand Deiner Gefühle hinwegeilt, doch gesagt, daß Du einem Abgrunde entgegen gehst.« »Welchem?« »Du liebst Wanda, und bei der Innigkeit und Tiefe Deines Wesens wird Dich diese Liebe, die eine vergebliche und unerwiderte sein muß, zu Grunde richten.« »Weißt Du das so genau?« »Ja. Ich bin Psycholog; wenn auch kein Meister, aber doch ein Mann, der seine Augen stets offen gehabt hat.« »Und wenn ich nun behaupte daß diese Liebe keine unerwiederte ist?« »Hast Du Beweise?« »Mehrere; unter Anderem den Zorn, welchen sie emfand, als sie droben in der Höhle gerade in dem Augenblicke zu sich kam, an welchem meine Lippen auf ihrem Munde ruhten.« »Das kann ebenso gut das Gegentheil beweisen. Ich kenne die Dame so ein wenig von der Residenz aus und habe genug von ihren Extravaganzen gehört, um annehmen zu können, daß sie der Zuneigung eines Mannes von untergeordneter Stellung allerdings des Abenteuerlichen halber einige Aufmerksamkeit zu schenken gestimmt sein kann, daß sie diese Liebe aber auch rücksichtslos in den Staub treten wird, sobald sie sich aus dem Bereiche des Platonischen herauswagt.« »Hast Du ähnliche Beispiele von ihr gehört?« »Nein; im Gegentheile ist es allbekannt, daß sie nie// 543 //
einem Manne auch nur den geringsten Anschein von mehr als gewöhnlicher Aufmerksamkeit erwiesen hat. Sie wurde förmlich umschwärmt, selbst von den Angehörigen der Crême unserer Gesellschaft; wie willst Du da Hoffnung hegen dürfen!«
»Deine Psychologie schmeckt nach dem Schema, Bruder. Ich habe allen Respect vor Deinem Scharfblicke, und wenn unsre Ansichten in Betreff Wanda's harmoniren, so liegt der einzige Grund in dem Umstande, daß Du dieses reichbegabte und eigenartig gebildete Wesen nur aus der Ferne gesehen und nach dem Hörensagen beurtheilt hast.« »Aber sie ist verlobt!« »Diese Verlobung gilt am Allerwenigsten in Deinen Augen etwas. Ihr Bräutigam ist ja der erklärte Gegenstand Deines polizeilichen Mißtrauens.« »Aber sie hat Ja zu dieser Verbindung gesagt.« »Das beweist nichts über ihre Gefühle. Im Gegentheil habe ich wiederholt bemerkt, daß sie ihn mit einer sogar verächtlichen Abneigung behandelt. Es müssen stringirende Umstände vorhanden sein, welche ihr die Zustimmung abgenöthigt haben.« »Das sind dunkle Punkte, welche wir aufklären müssen. Für jetzt will ich mein Urtheil zurücknehmen; aber meine Ansicht, daß eine intime Beziehung zwischen einem Essenkehrer und einer Baronesse fast unter die Unmöglichkeiten gehört, bleibt dieselbe. Du bist mir doch nicht bös wegen meiner brüderlichen Aufrichtigkeit?« »Ich halte diese Aufrichtigkeit einfach für Deine Pflicht; aber Du giebst meiner vorhin angedeuteten Meinung, daß dieser Gegenstand ein unerquickliches Gesprächsobject sei, doch Recht. Ich bin in der Schule des Lebens fest und sicher geworden und gestatte mir keinerlei Illusion. Ein Menschenkind ist nie nach der Stelle, an welcher es geboren wurde, sondern nach derjenigen, welche es durch eigene Anstrengung und inneren Werth errungen hat, zu schätzen, und das Mädchen, von welchem wir sprachen, hat noch keinen einzigen selbstständigen Schritt gethan, der irgend welchen Werth für meine Beurtheilung hätte. Sie steht also keineswegs unerreichbar da.« »Du sprichst allerdings sehr kalt.«»Der Verstand darf keine Luftschlösser bauen; die Liebe aber lehrt mich hoffen, daß Wanda ein Charakter sei. Zum Herabsteigen ist mehr moralischer Muth erforderlich, als zum Emporklimmen, und die Zukunft wird zeigen, ob mein Glaube der rechte gewesen ist.« - -
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und da die Chlowicki's schlecht gewirthschaftet hatten, so hätte die Rückerstattung des unrechtmäßig Angeeigneten das ganze Vermögen des Vaters der schönen Polin verschlungen. Säumen, ein wahrer Edelmann, war überrascht und tief gerührt in dem Verhalten Chlowicki's und weigerte sich in Folge dessen entschieden, auf die Restitution einzugehen. Nach langem Verhandeln, welches die Zeit von Jahren in Anspruch nahm, kam man endlich zu dem Schlusse, Eginhardt und Wanda, welche beide damals noch Kinder waren, einander zu verloben und durch die spätere Verheirathung derselben die Schwierigkeit der Sache auf eine beide Theite zufriedenstellende Weise zu lösen.«
»Ah! Und die beiden Kinder sind diesem Beschlusse gehorsam gewesen?« »Wie es scheint, ja. In welcher Zeit ihres Lebens man ihnen die betreffende Mittheilung gemacht und ob sich Eins von ihnen gegen die Erfüllung des Uebereinkommens gesträubt hat, das kann ich natürlich nicht sagen. Ich muß froh sein, das soeben Gesagte erfahren zu haben; tiefer in die discreten Beziehungen der beiden Familien einzudringen, das ist nicht gut möglich. Nur so viel weiß ich, daß die alte Baronesse eine Bürgerliche ist, man sagt, eine Jugendliebe des Barons, welche er nach dem Tode seiner ersten Frau als Erzieherin seiner Tochter zu sich genommen und später sogar geheirathet hat.« »Woher aber dann ihre aristokratische Exklusivität?« »Es ist eine sehr oft zu machende Erfahrung, daß Parvenu's sich mehr absondern als Diejenigen, welche im noch unentdeckten Sternbilde des Wappens geboren wurden.« »Wanda hat sich jedenfalls nur gezwungen gefügt. Es gilt nun, nachzudenken, auf welche Weise sich die Sache so arrangiren läßt, daß dieser Zwang wegfällt.« »Das wird nicht leicht sein. Redressirt das Mädchen die Verlobung, so ist sie zur sofortigen Rückerstattung des damaligen Verlustes nebst Zinsen verpflichtet.« »Und wenn der Baron zurücktritt?« »So verzichtet er auf diese Wiederstattung. Und stirbt Eins von den Beiden vor der Hochzeit, so fällt sein Vermögen auf das Andere. Beide sind nämlich die letzten und einzigen Sprossen ihres Geschlechtes.« »Ist der Baron gesund?« fragte der Polizist nach einer Pause des Nachdenkens. »Er ist lang und hager; doch scheint er nichts weniger als krank zu sein. Das wäre allerdings der geradeste Weg aus dem Labyrinthe.« »Hm, Onkel, ich werde mir die Sache überlegen. Mein Urlaub ist kurz; warten könnte ich also nicht, selbst wenn ich wüßte, daß eine solche Lösung später zu hoffen wäre. Ich werde also in anderer Weise handeln müssen. Für jetzt aber werde ich mich auf einige Zeit zurückziehen; Du weißt, Onkel, daß meine Constitution unter dem Eindrucke einer so langweiligen Bahnreise sehr zu leiden hat.« »Ja, gehe; Du kennst ja Deine Zimmer. Sobald Du Dich ausgeruht hast, stehe ich Dir wieder zur Disposition. Solltest Du Dich bald restaurirt haben, so könnten wir den Concertgarten besuchen, wo heute Nachmittag die Honoration unsrer Stadt ein musikalisches Amüsement abhält und Wanda von Chlowicki jedenfalls auch zu sehen und vielleicht zu sprechen ist.« »Wenn das der Fall ist, lieber Onkel, so werde ich zu meiner Erholung nicht lange Zeit bedürfen. Ich bin natürlich sehr in der Stimmung Dich zu begleiten.« - Einige Zeit später ging der alte Herr Polizeirath der Seite seines Neffen in das Concert. Wie der Erstere vorhergesagt, war die feine Gesellschaft des Städtchens hier versammelt, um sich zu erlustigen, und wirklich erschien auch die Baronin von Chlowicki in Begleitung ihrer Tochter, um als eine seltene Erscheinung an dem Vergnügen Theil zu nehmen. Da die übrigen Tische alle besetzt und nur in der Nähe des Polizeirathes noch einige Plätze unbelegt waren, so erhob sich Letzterer, um die Damen zu sich einzuladen. Sie folgten seiner Bitte, und das Gesicht des Commissars glänzte von dem Widerscheine der Freude, welche er über das noch nie gehabte Glück empfand, an der Seite der still Angebeteten sitzen und die Funken seines Witzes sprühen lassen zu können. Wirklich war auch Wanda die liebenswürdigste Gesellschafterin von der Welt, und wenn sie nach den Regeln der einfachsten Höflichkeit den Expectorationen ihres Nachbars eine scheinbar zustimmende Aufmerksamkeit widmete, so nahm seine Selbstgefälligkeit aus dieser rücksichtsvollen Nachsicht immer neue Nahrung. »Ich stelle die Musik hoch über die Dichtkunst,« meinte er im Laufe der Unterhaltung. »Letztere zwingt meine Gedanken in eine bestimmte Richtung, während die Erstere die Freiheit meiner Gefühle weniger beschränkt.« »Dürfte nicht zu bedenken sein,« antwortete das Mädchen, »daß die Töne für den wirklichen Kenner dieselbe Klarheit und Deutlichkeit besitzen, wie das gelesene oder gesprochene Wort?« »Ich bedaure, mich dieser Ansicht nicht zuneigen zu können.« »Aus welchem Grunde?« »Aus dem der Erfahrung. Die Gefühle, welche eine musikalische Dichtung in mir erregt, sind stets unbestimmte gewesen, und gerade diese ihre Eigenschaft ist es, welche uns wohl thut.« »Ihre Behauptung entbehrt nicht ganz der Wahrheit, doch liebe ich solche Unbestimmtheit zu wenig, um mir nicht Mühe zu geben, durch ein tieferes Eindringen in das Wesen der Tonkunst meinen Gefühlen Ausdruck zu geben.« »Dieses Eindringen aber ist schwer, wo nicht gar unmöglich.« »Haben Sie nicht auch Dichter, welche nur durch tiefes und ernstes Studium zu ergründen sind? Nicht Jeder schreibt mit einer so hinreißenden Klarheit und einer so fesselnden Logik wie der Autor des hier vor uns liegenden Aufsatzes.« Sie griff vor sich hin und nahm ein Journal auf, welches auf dem Tische lag. »Es giebt auf dem Gebiete der Belletristik jetzt so viel Mittelmäßiges oder gar Werthloses, daß man mit der Auswahl seiner Lecture nicht heikel genug sein kann. Kennen Sie dieses Blatt?«Ende des neunten Teils – Fortsetzung folgt.