Nummer 32 | Der Beobachter
an der Elbe. Unterhaltungsblätter für Jedermann. Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden. 2. Jahrg. Wanda. Novelle von Karl May. |
19. Juni 1875 |
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»Ist's möglich, Fräulein, Sie zürnen mir nicht meiner Schwachheit wegen, sondern deshalb, weil wir nun quitt sind?«»Ich zürne!« erwiederte sie erröthend, indem sie eine verabschiedende Handbewegung machte. »Ueber den wahrrn Grund dürfen Sie nachdenken.«
Sie schritt in Begleitung ihrer Mutter und des Barons dem Wagen zu, während Winter zu Gräßler und Thomas zurücktrat. »Was wird denn nun mit dem Seile, Emil?« »Die Leute mögen es losreißen; der Keil wird mehr als die Schwere einiger Menschen nicht tragen.« »Na, das können se ooch ohne uns machen, Emil. Da kommt der Stadtrichter und wirklich schon zwee Polizisten hinter ihm.« Der Genannte trat zu den Dreien und richtete seine Fragen besonders an Winter, welcher ein einfaches Referat des Sachbefundes gab, ohne sich auf Schlüsse oder Verdachtserklärungen einzulassen. Am Schlusse der Unterredung bat der Vater der Stadt um Verschwiegenheit und gab die Erklärung, die Sache sofort der Staatsanwaltschaft zu übergeben. Dann verabschiedete er sich von ihnen. »Da wird unser Special in eene schöne Patsche gerathen. Ich werde mein Möglichstes thun, ihn in Trapp zu bringen.« »Man muß vorsichtig sein, Anton. So klar ich mir in dieser Beziehung auf meine Ansicht bin, so hüte ich mich doch vor einem lauten, voreiligen Urtheile. Wir haben unsre Pflicht gethan; das Uebrige ist nicht unsre Sache.« »Warum gucktest Du denn seinen Rock off so 'ne eigenthümliche Weise an?« »Der Name, welcher inwendig am Kragen sich befand, fiel mir auf.« »Ach so! Das itzt neue Mode. Wenn een Schneider nur halbege vierteljährlich drei alte Röcke zu wenden hat, so steppt er seinen Geburtsschein, sein Taufzeugniß und wo möglich ooch noch seine Impflegitimation unter den Henkel, damit der Lumpensammler später sieht, wem er den Profit zu verdanken hat. - Aber, Emil, was ich Dir sagen wollt: Du bist wirklich een tüchtiger Kerl!« »Warum?« »Warum? Das brauche ich Dir wieder nich erst zu sagen. Hier is de Thüre. Mach, daß Du 'nein kommst, und ruhe Dich gehörig aus. Es is mein' Seel' keen Spaß, nur immer so den Lebensretter spielen. Gestern off der Dachfirste und heute gar im Felsenbruche. Ich bin nur neugierig, wo's morgen werden wird; vielleicht droben im Monde. Das halte der Deixel aus, ich nich! Leb wohl, Emil! Komm, Heinrich; Du gehst doch mit heeme?« »Ja wohl; 's wird endlich 'mal Zeit. Leb wohl, Emil!« »Adieu!« Er trat in seine Stube, die er verlassen hatte, ohne zu ahnen, welche Bedeutung die nächsten Viertelstunden für ihn haben würden. Aber er gönnte sich die nach der gehabten Aufregung und Anstrengung so nothwendige Ruhe nicht, sondern kaum hatte er die schadhaft gewordene Kleidung mit einer andern vertauscht, so öffnete er ein Fach seines Schreibepultes und zog einen Packt Briefe hervor, aus denen er einen herausnahm und öffnete, um ihn zu lesen. Den ersten Theil des Schreibens überblickte er mit flüchtigem Auge; den letzten Zeilen aber schenkte er doppelte Aufmerksamkeit. Sie lauteten: »Selbst ein nur leidlicher Polizist hätte das Material ein hinreichendes nennen müssen. Der Stubennachbar war jedenfalls der Thäter; denn er hatte bei seiner Entfernung das sämmtliche Gepäck des Ermordeten bei sich gehabt, worauf der Hausknecht sich leider zu spät besann. Sein Signalement war ein vollständiges, und wenn ich auch annehme, daß der dichte, schwarze Vollbart ein falscher gewesen sei, so kann doch dieser Umstand ein gutes Auge nicht irre leiten. Als vorsichtiger Mann hat er die eingeschlagene Route jedenfalls bei der nächsten Station schon verändert; aber man hatte ja Erkennungszeichen, und das sicherste, wenn auch nicht auf den ersten Blick zu ermittelnde, war eine Namenstickerei, welche der Hausknecht beim Reinigen des Oberrockes an der inneren Seite des Kragens bemerkt hatte. Sie lautete: ›Jules Ragellef, marchand tailleur, Paris‹. Hiermit war der Nachforschung das Terrain geöffnet. Aber man gefiel sich wie gewöhnlich in dem ignoranten Belächeln meiner Gründe und Folgerungen und lief in's Blaue hinein, bis man Weg und Steg verloren hatte und endlich froh war, zu Hause bei Muttern von der erfolglosen Hetzjagd ausruhen zu können. Meine akademischen Kenntnisse geben mir das Uebergewicht über die Mehrzahl meiner Kameraden. Das erweckt Neid und Mißgunst und stellt mich in die traurige Lage, immer nur zu meinem Schaden gegen die Feindschaft meiner Vorgesetzten ankämpfen zu müssen. Man scheut keine Anstrengung, mich müde zu machen, und erreicht man diesen Zweck nicht, so wird man über kurz oder lang eine Gelegenheit, mich zu blamiren, bei den Haaren herbeiziehen, welche die Veranlassung zu meiner Entfernung sein wird.// 511 //
Bevorzugte zum Zwecke eines raschen Avancements anzusetzen pflegt. Gerade so wie er war auch sein Bruder lediglich nur auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit angewiesen gewesen und hatte unausgesetzt mit widerlichen Schicksalen zu ringen gehabt.
Die Liebe hatte ihn mit der Tochter eines seiner höchsten Vorgesetzten zusammengeführt; aber obgleich seine Neigung mit aller Treue und Herzlichkeit erwiedert wurde, durfte er sich doch nicht eher Hoffnung auf die Erfüllung seiner Wünsche machen, als bis es ihm geglückt war, aus seiner untergeordneten Stellung in eine höhere empor zu rücken. Aber bei der feindseligen Beharrlichkeit, mit welcher man ihm jede Gelegenheit, sich auszuzeichnen, entzog und seine Befähigung in Zweifel zu ziehen strebte, war dieser Zeitpunkt in die größeste Ferne hinausgeschoben. Die Lage des Bruders drückte Emil mehr, als es früher seine eigene Hilfsbedürftigkeit gethan hatte. Längst schon hatte er den sehnlichen Wunsch gehegt, ihm dienen, ihn unterstützen zu können; aber bei der Ungleichheit ihrer Stellungen und der weiten Entfernung ihrer gegenseitigen Wohnorte war ihm das eine Unmöglichkeit gewesen. Jetzt nun schien sich eine treffliche Gelegenheit dazu zu bieten, und er beschloß, sie zu benutzen. Langsam griff er zur Feder, legte in Gedanken die vorliegenden Verhältnisse noch einmal zurecht und begann dann, einen ausführlichen Bericht nebst der klaren Darstellung seiner Vermuthungen aufzuzeichnen. Als er geendet hatte, überlas er das Geschriebene noch einmal und meinte dann mit einem Lächeln, in welchem sich das wohlthuende Gefühl der Hoffnung aussprach:»So, das wäre der Anfang. Gott gebe, daß es ein Gelingen hat und ihm Erfüllung seiner Wünsche bringt!«
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»Darf ich neugierig sein?« fragte der junge Mann, und in seinen Augen blitzte es auf wie Siegesbewußtsein bei den ein volles Zugeständniß enthaltenden Worten des Professors.
»Erstens bin ich jetzt Aeronaut und hege die Ansicht, daß ich als Professor und Mitglied der academique française mehr Effect erziele als unter einem weniger aplompen deutschen Namen.« »Und zweitens?« »Und zweitens ist sehr zu vermuthen, daß man unter einem französischen Professor keinen deutschen Flüchtling suchen wird. Der Deutsche würde in der Heimath nicht französisch sprechen.« »Sie sind scharfsinnig! Nur sollten Sie besser vertraut mit den Eigenthümlichkeiten eines von einem ächten Franzosen gesprochenen Deutsch sein.« »Ich habe diesen Mangel oft gefühlt; aber es hat sich keine passende Gelegenheit gefunden, ihm abzuhelfen. Sprechen Sie rein französisch?« »Ja.« »Und kennen Sie jene Eigenthümlichkeiten genau?« »Sehr.« »Es ist gewiß, daß Sie auch entsprungen sind?« »Würde ich Ihnen im Verneinungsfalle eine so gefährliche Mittheilung gemacht haben?« »Wohl wahr. Sie kennen meinen Namen? Sie nannten mich gleich bei meinem Eintritte Professor.« »Ich sah Sie und las von Ihnen in der Hauptstadt.« »Und Ihr Name?« »Erlauben Sie mir, vorsichtig zu sein!« »Ganz, wie Sie wollen; aber Sie sehen doch ein, daß Sie mir gegenüber keinen Grund zum Mißtrauen haben.« »Ich stimme Ihnen vollständig bei, doch hat bei uns der Name ja nicht die Bedeutung, welche er bei Andern besitzt. Wir wechseln ihn wie einen Rock.« »Zugestanden. Aber nach Ihrer Eigenschaft darf ich fragen?« »Ich habe leider keine feststehende.« »Sie bedürfen doch aber der Mittel, Ihre Existenz zu fristen!« »Ah pah. Ich bin ein guter Billardspieler.« »Dann ist die Existenz eine sehr problematische. Ich würde zu einer besseren greifen.« »Wäre auch schon längst geschehen, wenn sie sich mir geboten hätte. Ich habe leider nie dem Glücke im Schoße gesessen.« »Hm!« machte der Professor, indem er sein Gegenüber mit einem nachdenklichen und vorsichtigen Blick musterte. »Hm; ich hätte etwas für Sie, wenn ich nur wüßte -« »Was?« »Ich wollte sagen: wenn ich nur wüßte, ob ich Ihnen trauen darf.« »Sehr aufrichtig!« lachte sein Gegenüber. »Aber ich kann Ihnen nicht zürnen und noch weniger Sie tadeln.« »Ich weiß so wenig von Ihnen, und dieses Wenige beschränkt sich nur auf das, was Sie selbst mir gesagt haben.« »Habe ich für meine Lage Ihnen nicht genug oder gar schon zu viel gesagt? Zu näheren Details könnte ich mich entschließen, wenn mir sowohl in Beziehung auf Ihre Person als auch durch Das, was Sie mir bieten, sichere Garantie geboten wird.« »Hm. Wenn Sie von der Residenz kommen, werden Sie wohl auch erfahren haben, daß mein Gehilfe bei unserer letzten Ballonfahrt verunglückt ist.« »Ich weiß es.« »Ich kann nicht allein stehen und bedarf eines Ersatzmannes. Doch müßte es ein etwas wissenschaftlich gebildeter Mensch sein.« »Ich habe studirt.« »Ah, wirklich?« »Ein solcher Platz wäre mir angenehm, zumal ich die feste Ueberzeugung hege, Ihre Ansprüche befriedigen zu können.« »So, das wäre wünschenswerth, zumal ich mehr Practiker als Theoretiker bin. Mein Bruder nämlich war Aëronaut. Zu ihm flüchtete ich mich, und er weihte mich in die Kunst der Luftschiffahrt ein. In England starb er und hinterließ mir seinen Ballon, seinen Namen und seine Papiere. Er galt für einen Franzosen, und ich habe diese Geltung auf mich übertragen.« »Das Glück ist Ihnen günstiger gewesen als mir.« »Vielleicht erklärt es sich endlich doch auch noch für Sie. Wollen Sie bei mir bleiben?« »Unter welchen Bedingungen?« »Ueber sie werden wir uns schnell einigen, wenn wir uns nur erst näher kennen gelernt haben. Jetzt fragt es sich in erster Linie, ob Sie Lust zu einer Stellung wie die gebotene haben.« »Ich sage: Ja.« »Topp; schlagen Sie ein!« »Hier meine Hand. Ich bin frei von Furchtsamkeit und Schwindel.« »Aufsteigen werden Sie wenigstens in der ersten Zeit nicht mit. Meine Einnahme erstreckt sich außer auf das Ergebniß der unter den Zuschauern stattfindenden Sammlung, welche Sie zu besorgen hätten, auch auf die Gratificationen der Passagiere, und so muß ich mit den Gondelplätzen geizen.« »Hoffen Sie, auch in dem einfachen Provinzialstädtchen, nach welchem Sie gehen, solche Passagiere zu finden?« »Sie wissen, wohin ich gehe?« »Die Zeitungen plaudern davon.« »Ich bin von dem dortigen Gewerbeverein eingeladen und werde Unterstützung finden. Es scheint ein sehr lernbegieriges Völkchen dort zu wohnen.« Der Professor hatte es sich längst bequem gemacht und blieb auch dann noch in dem Coupee, als der Schaffner ihn zur Uebersiedelung bewegen wollte. Das Gespräch wurde lebhaft fortgesetzt, und es wäre für einen ungesehenen Beobachter von Interesse gewesen die Herzensgesinnung der beiden Männer zu erforschen. Trotz der Schnelligkeit, mit welcher der Luftschiffer seinen Vorschlag gemacht hatte, schien es doch kein freiwilliger zu sein; denn es lag, sobald er sich unbemerkt wähnte, in seinen Blicken etwas Lauerndes und Feindseliges.Ende des siebten Teils – Fortsetzung folgt.