Nummer 31 | Der Beobachter
an der Elbe. Unterhaltungsblätter für Jedermann. Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden. 2. Jahrg. Wanda. Novelle von Karl May. |
16. Juni 1875 |
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Der Baron war sofort in die Wohnung der Baronin geeilt, hatte schleunigst anspannen lassen und fuhr mit der alten Dame so weit heran, als es das Terrain erlaubte. Dann half er ihr aus dem Wagen und führte sie vollends hinauf bis in den obersten Bruch.Kein Zug in dem Angesichte der kalten, strengen Aristokratin verrieth eine Spur von innerer Aufregung; aber ein sorgfältiger Beobachter hätte hinter dem feuchten Glanze ihres Auges die tiefe Angst bemerken können, welche ihr bei gewöhnlichen Gelegenheit starres, durch die Unglückskunde jetzt aber zum Bewußtsein gekommenes Herz erfüllte.
Auf dem ganzen Wege hatte der Baron kein Wort gesprochen, aber als er jetzt den unerschrockenen Kletterer bemerkte, stieß er einen lauten Ruf der Verwunderung aus. »Wer ist der Mann?« fragte er Einen der Leute. »Der Essenkehrer Winter.« »Ach dieser,« dehnte er mit einem eigenthümlichen Tone der Befriedigung. »Ich kann nichts dagegen haben, wenn er den Hals brechen will. Die Sache konnte anders und besser angegriffen werden!« Thomas und Gräßler waren jetzt wieder nach unten gekommen, und da sie eben vor dem Sprecher vorübergingen, vernahmen Beide die Worte. Rasch drehte sich der Schmied um und schlug dem Baron die große, schwielige Hand derart auf die Schulter, daß er tief zusammen zuckte. »Maul halten, Bruderherz! Wie so vieles Andre, scheint der da droben ooch diese Sache besser zu verstehen, als Sie. Eegentlich wäre es Ihre Pflicht, sich da noff zu würgen und ich kann mich nich genug wundern, daß Sie so ruhig hier stehen bleiben können. Also, Schatz, nehmen Se sich mit Redensarten in Acht; wir sind heut nich mehr im Tanzsaale!« Säumen schien erst jetzt zu erkennen, was sein Verhältniß zu Wanda von ihm fordere. Rasch warf er den Oberrock ab und trat einige Schritte vor. »Bringt das Seil nach oben. Ich werde mich daran herablassen!« »Das wird nich gehen,« entgegnete ihm Thomas. »Warum nicht?« »Winter hats für sich holen lassen.« »Aber es gehört dahin, wo es am Nothwendigsten gebraucht wird!« »Und das wird grad hier bei uns sein.« »Wissen Sie, mit wem Sie sprechen?« »Noch nich so ganz genau; vielleicht aber erfahre ichs noch!« Jetzt erscholl ein lauter, einstimmiger Ruf der Freude. Winter hatte die Höhle erreicht und war in ihrer Vertiefung verschwunden. Die Spannung war eine so aufreibende und bedeutende gewesen, daß selbst die Zuschauer einer Erholung bedurften, und diese fanden sie dadurch, daß sie ihrer Beklemmung in lauten Ausbrüchen Luft machten. »Nehmt doch Verstand an, Ihr Leute!« rief der Schmied in die schreiende und gestikulirende Versammlung hinein. »Wenn der Winter uns was zurufen will, so hören wir mein' Seel' keen Wort dervon!« Augenblicklich trat die gewünschte Stille ein; aber der erwartete Zuruf blieb aus. Aller Augen hingen an der Mündung der Höhle. Da endlich bewegte sich oben das Gebüsch und ein Kopf kam zum Vorschein. »Er hat se neingezogen, und nun is er wieder haußen und wird die Schnure runter lassen.« »Nee, das is der Winter nich, das is alleweile de Polin selber. Potz Himmel und Wolken, is das een Mädel. Se will sich de Passage erst selber ansehen. Die hat keene Spur von Schwindel im Blute. Aber se is doch nich so ganz und gar billig weggekommen; seht Ihrs, daß se sich den Kopp verbunden hat?« Jetzt zog sie sich wieder zurück und kurze Zeit darauf vernahm man laute Hammerschläge. Eine Weile, nachdem dieselben verklungen waren, rief Thomas: »Guckt 'mal! Is das nich der Faden, der da 'runter kommt? Ja wirklich. Er hat eenen Steen dran gebunden, daß er nich fliegen soll. So, da haben wir ihn. Er is doppelt, und das is gescheidt; er könnte sonst an den Steenen gescheuert werden. Gebt das Seil her; wir wollen es anschlingen!« Es geschah, und bald darauf wurde es in die Höhe gezogen. Dann wurde das Gestrüppe ausgerissen und herunter geworfen, und nun konnte man die Beiden oben stehen sehen. Das Mädchen hatte das Oberkleid hosenartig zusammengeschlagen und ließ sich furchtlos an dem Rande des Abgrundes nieder. Sie hatte sich das Seil um den Leib befestigt und stand mit den Füßen in einer Schlinge, welche ihr sicheren Halt gewährte. Die Hände hatte sie sich zur nothwendigen Abwehr gegen den Felsen frei behalten. Jetzt drehte sie sich gegen die Wand und hing im nächsten Augenblicke frei in der Luft. Winter stand mit vorgestemmtem Beine und zurückgebogenem Oberkörper am Eingange der Höhle und hielt mit kräftiger Hand das Seil, an welchem sie niederschwebte. Langsam und vorsichtig griff sie, jede Umdrehung vermeidend, sich abwärts, und wenn sich auch ihren zarten Händen die Spuren der ungewohnten Berührung mit dem harten und scharfen Gestein einprägten, so kam sie doch nach kurzer Zeit sicher und wohlbehalten unten an, wo sie mit schallendem Jubelrufe empfangen wurde. Sie aber wehrte die stürmischen Freudenbezeugungen von sich ab und wies, nachdem sie sich von den Schlingen befreit hatte, empor zur Höhe, in welcher Winter sich eben anschickte, nachzufolgen.// 496 //
Das Niederturnen war bei Weitem nicht so gefahrvoll wie das Emporklimmen, und so langte auch er unverletzt auf dem Boden an. Fast, freilich, hätte er ihn nicht erreicht; denn kaum war er ihm nahe, so streckten sich auch ein Dutzend Arme aus, ihn zu empfangen, und die stürmisch erregte Menge machte alle Anstalt, ihn auf die Schultern zu heben und im Triumph nach Hause zu tragen. Er aber machte sich mit einer energischen Bewegung frei und brach sich durch die Umstehenden Bahn, um zu Wanda zu gelangen.
»Sind Sie beschädigt, Fräulein?« »Ich danke, nein.« »So gestatten Sie mir den herzlichsten Glückwunsch. Für eine Dame war die Fahrt nicht ganz unbedenklich.« »Das schwache Geschlecht ist zuweilen weniger zaghaft als das sogenannte starke. Man entledigt sich einfach des Rockes und hat damit seine Pflicht natürlich in ihrem vollsten Umfange erfüllt. Nicht wahr, Mama?« Die alte Dame war mit dem Baron herzugetreten, und Letzterer hatte die ihm geltenden Worte vernommen. »Du darfst nicht ungerecht sein, Wanda! Der Herr Baron kam, als die befriedigendsten Anstalten zu Deiner Rettung bereits getroffen waren. Zur unmittelbaren Theilnahme an dem Wagnisse war es für ihn also zu spät.« »Herzlichen Dank für die freundliche Vertheidigung, gnädige Frau. Ich wünsche nichts mehr, als daß es mir an Stelle eines Fremden vergönnt gewesen sein möchte, meiner Braut den Beweis zu liefern, daß ich in ihrem Dienste weder Gefahr noch Tod scheue.« »Ich hege die vollständige Ueberzeugung,« entgegnete Wanda, und ihre Stimme hatte eine fast schneidende Schärfe, »daß Du in Absicht auf meine Person eine kleine Gefahr nicht scheuest. Und hätte ich bisher diese Absicht auch nicht gehegt, so würde dieser unerwartete Fund mich eines Besseren belehren.« Sie hielt ihm ein weißes Taschentuch entgegen, an dessen Stickerei er es sofort als das seinige erkannte. Bis hinter die Schläfe erbleichend, streckte er die Hand hastig darnach aus; sie aber zog es rasch zurück. »Du erlaubst mir wohl, dieses freundliche Souvenir in meine eigene Verwahrung zu nehmen?« »Ein so werthloser Gegenstand kann unmöglich Bedeutung für Dich haben.« »Unter gewöhnlichen Umständen allerdings nicht. Der heutige Tag aber zeigt uns eine so eclatante Romantik, daß für mich selbst das sonst Werthloseste große Bedeutung enthält.« »Höchst wahrscheinlich habe ich das Tuch bei meinem Morgenspaziergange verloren.« »Möglich. Doch, willst Du nicht Mama sekundiren? Es ist jedenfalls Deine Pflicht, meinem Retter ein Wort der Anerkennung zu sagen!« Die Baronin hatte sich mit ungewöhnlicher Herzlichkeit zu Winter gewandt. Aber obgleich er ihren überraschend wohlwollenden Aeußerungen mit Aufmerksamkeit folgte und mit Gewandtheit auf ihre feinen Redewendungen einging, so war er doch der Einzige, dem keine Silbe des Gespräches zwischen den beiden Verlobten entgangen war. Diese traten jetzt näher, und der Baron versuchte, seinen Worten die größtmöglichste Freundlichkeit zu geben. »Herr Winter, ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, mich Ihnen zu nahen, um -« »Herr Baron, ich ergreife mit Freuden die Gelegenheit, mich von Ihnen zu entfernen!« Es lag eine unendliche Verachtung in dem Zucken seiner Augenwinkel und der legeren Art und Weise, in welcher er die Spitzen seines Bärtchens drehte. Sofort aber nahmen, der Baronin gegenüber, seine Züge den Ausdruck tiefsten Respectes an, als er, von ihr sich verabschiedend, sprach: »Gnädige Frau, ich kenne kein härteres Loos, als nach einem Leben voller Entsagung und Enttäuschung weder Liebe noch Verständniß zu finden. Verzeihen Sie meiner Indiscretion, welche aus dem Bestreben entspringt, Ihnen meine Hochachtung zu beweisen.« Trotz der Zudringlichkeit, welche zu jeder andern Stunde in diesen Worten gelegen hätte, ging es wie eine tiefe, ungewohnte Rührung über ihr sonst so starres und hartes Angesicht, und man sah es ihr an, daß sie ihm gern eine wohlwollende Antwort gegeben hätte. Aber er hatte sich schon entfernt und schritt auf Gräßler und Thomas zu, welche ihn erwarteten. Jedoch mitten im Laufe hielt er inne und bückte sich zu dem noch am Boden liegenden Ueberzieher, um ihn aufzuheben und einer näheren Betrachtung zu unterwerfen. Mit sichtbarer Spannung richtete er das Auge auf die innere Seite des Kragens, wo gerade unter dem Henkel in weißer Seidestickerei die Worte »Jules Ragellef, marchand tailleur, Paris« angebracht waren. Kaum hatte er die Schrift überflogen, so legte er das Kleidungsstück mit gleichgiltiger Miene wieder nieder, und nur einem scharfen Auge wäre die Bemerkung geglückt, daß diese Gleichgiltigkeit nur eine scheinbare sei. Schon wollte er sich mit den beiden Freunden entfernen, da trat Wanda auf ihn zu. »Herr Winter, Sie haben mir das Leben gerettet; ich darf Ihnen also nicht grollen.« »Eine von der Höflichkeit gebotene oder durch die Dankbarkeit erzwungene Verzeihung kann nur den Oberflächlichen befriedigen. Sie haben das Recht, mir zu zürnen, und ich bitte Sie, auf dieses Recht nicht Verzicht zu leisten. Ich bin nicht schwach genug, um vor einer bloßen Gesinnung zu zittern.« »Gut, so werde ich zürnen, bis Sie selbst mich um Verzeihung bitten.« »Das werde ich thun, sobald ich die Gewißheit habe, daß der Sünder nicht aus bloßer Dankbarkeit begnadigt wird.« »Wenn die Verzeihung Ihnen überhaupt einmal wünschenswerth sein könnte, so würden Sie jetzt nicht ein so großes Verlangen nach meinem Zorne geäußert haben.« »Der Zorn kann nicht größer sein als seine Begründung, und diese ist wohl nicht von sehr erschreckenden Dimensionen.« »O doch; oder soll ich gleichgiltig dazu sein, daß Sie meine Schuld ohne meine Erlaubniß quitt gemacht haben dadurch, daß sie sich nach Belieben Ihren Lohn wählten und ihn in Empfang nahmen ohne meinen Willen und noch ehe Ihr Werk beendet war?«Ende des sechsten Teils – Fortsetzung folgt.