Nummer 44 Der Beobachter an der Elbe.
Unterhaltungsblätter für Jedermann.
Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden.
2. Jahrg.


Wanda.

Novelle von Karl May.
31. Juli 1875


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»Treten Sie in dieses Zimmerchen; ich möchte gern vorsichtig sein. - So, jetzt haben wir keinen Lauscher zu fürchten, und ich darf also Ihre Incognito berühren.«

»Wieso?«

»Ihr Name ist Winter, und Sie befinden sich in der Gesellschaft des Herrn Barons von Säumen, um den Urheber eines Ihnen bekannten Verbrechens zu entdecken!«

»Woher kennen Sie mich?« fragte Winter ruhig, ohne seine Ueberraschung über diese bedeutungsvollen Worte zu verrathen.

»Ich war Oberkellner in dem Hause, in welchem die That verübt wurde und habe den Fremden bedient, welcher am andern Morgen mit den Effecten des Ermordeten abreiste, ehe wir Kenntniß von dem Verbrechen haben konnten. Sie besuchten damals dieses Haus sehr oft und haben mich auch in's Examen genommen.«

»Ah, wirklich; ich besinne mich. Sie machten mich auf das seltsam geformte Uhrgehänge des Entflohenen aufmerksam. Aber wie kommen Sie heut zu der Vermuthung, daß meine Anwesenheit hier in Beziehung zu jenem Ereignisse stehe?«

»Wissen Sie, bei wem ich dasselbe Gehänge bemerkt habe?«

»Nun?«

»Bei dem Herrn Baron von Säumen.«

»So, so, so!« dehnte Winter in absichtlich zweifelndem Tone. Er mußte mit Rücksicht auf die Tante vorsichtig sein. »Sie wollen sich doch nicht etwa durch eine Uhrkettenähnlichkeit zu einem Schlusse verleiten lassen, der geradezu ein höchst verunglückter genannt werden mußte! Ich kenne den Herrn Baron sehr genau; er hat als Student in dem Hause meiner Eltern logirt.«

»Trug er schon damals diese Kette?«

»Freilich; es ist ein altes Familienstück. Es mag sein daß es ähnliche giebt.«

»Dann habe ich mich getäuscht; aber nicht blos in Folge dieser Aehnlichkeit.« Er betonte das vorletzte Wort ganz besonders und setzte dann langsam hinzu: »und dann schien es mir auch, als hätten Sie eine ganz besondere Aufmerksamkeit für den Baron, so ungefähr, wie man sie gegen Jemanden hegt, den man schon halb und halb als Gefangenen betrachtet.«

»Ihr Scharfsinn ist beneidenswerth!« lachte Winter. »Sie müssen mir schon eine kleine Aufmerksamkeit einem Herrn gegenüber erlauben, dessen Stellung und Einfluß mir nützlich sein kann.«

»Und sodann,« fuhr der Wirth, wie sich entschuldigend, fort; »schien mir Gestalt, Haltung und Stimme des Barons ganz diejenige jenes Unbekannten zu sein, und wenn er einen Bart trüge, so -«

»So brauchte er sich nicht rasiren zu lassen mein Lieber! Und die andere Aehnlichkeit? Sie sprachen vorhin mit Betonung.«

»Ich glaube, der Baron hat große Aehnlichkeiten mit dem Ermordeten.«

»Da sehen Sie,« rief Winter abermals lachend; »was Sie heut Alles glauben! Uebrigens dürfen Sie sich beruhigen, denn ich will Ihnen im Vertrauen die Mittheilung machen, daß es mir gelungen ist, jenen Mörder zu entdecken. Ein Baron von Säumen aber ist er nicht.«

Er verließ das Zimmer und schritt die Treppe hinauf. Oben eintretend, sah er die Baronin ohnmächtig auf dem Sopha liegen und die Zofe beschäftigt, sie ins Bewußtsein zurück zu rufen. Säumen und Thomas standen dabei.

»Was ist hier geschehen?« fragte er.

»Der Herr Baron ist s freundlich gewesen, 'ne rückhaltslose Mittheilung über unser Abenteuer zu machen,« antwortete Letzterer.

»Das war zum Mindesten unvorsichtig, und -«

»Herr Winter,« fiel ihm Säumen in das Wort; »ich hoffe nicht, daß Sie es unternehmen wollen, mich zu schulmeistern!«

»Nein, aber Sie geben doch zu, daß die Schicklichkeit uns gebietet, die Damen allein zu lassen. Treten wir in's Nebenzimmer.«

»Es ist vollständig gleichgültig, welchen Ort Sie zu Ihrem Aufenthaltsorte nehmen wollen. Ich ziehe für mich einen andern vor!« entgegnete Säumen nach der Ausgangsthür schreitend.

»Und doch ersuche ich Sie, Herr Baron, mir wenigstens noch einen Augenblick zu schenken. Soeben machte mir der Wirth eine Mittheilung, welche sich auf Sie bezieht.«

»Welche?« fragte Säumen und schritt, von dem gleichgültigen Tone des Sprechers verführt, diesem nach in das Nebengemach. Während er sich dort, um die nöthigste Unbefangenheit zu zeigen, niederließ, bemerkte er nicht, daß Winter dem Buchbinder bedeutete, an der Thür Posto zu nehmen, während er selbst sich an das einzige Fenster stellte, welches das Zimmer hatte.

»Nun? Ich warte immer noch auf ihre Mittheilung!«

»Der Wirth machte mich vor einigen Augenblicken auf die interessante Thatsache aufmerksam, daß vor längerer Zeit in einem jedenfalls auch Ihnen bekannten Hause ein Baron Eginhardt von Säumen ermordet worden sei. Der Mann ist damals Oberkellner dort gewesen und hat sich den Mörder so genau angesehen, daß er ihn in allen Verhält nissen und in jeder Verkleidung wieder erkennen würde. Ich glaubte, Ihnen diese Neuigkeit nicht vorenthalten zu dürfen, da Sie den Namen des Todten führen.«

Einige Augenblicke lang war der Angeredete sprachlos. Um seine Mundwinkel zuckte der Schreck, und ein heiseres Räuspern ließ erkennen, daß er nach Fassung rang. Bald aber klang es spöttisch von den bleichen Lippen:

»Ich danke Ihnen, Herr Winter, für diese humoristische Depesche. Ich habe bisher wirklich noch nicht gewußt, daß ich einmal ermordet worden bin. Denn ich muß es doch wohl gewesen sein, da es nur Einen meines Namens giebt.«


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»Bitte sehr, Baron. Ich werde Sie sogar zu vermehrtem Dank verpflichten, dadurch, daß ich Ihnen Einiges über den Mann sage, der Sie ermordet hat.«

»Thun Sie das; ich habe damals als Todter jedenfalls nicht Zeit gehabt, mir ihn nachträglich noch einmal genau anzusehen.«

»Er ist auch ein Herr Von.«

»Das höre ich gern. So bin ich doch wenigstens von ebenbürtiger Hand gestorben.«

»Hat seine Studien im Bicêtre vollendet.«

»Muß ein Teufelskerl gewesen sein!«

»Aber undankbar. Er ist fortgegangen, ohne nach dem Honorar zu fragen.«

»Vielleicht zahlt er es noch.«

»Das ist eben auch meine Meinung; ich werde ihn sehr darum bitten.«

»Wird er sich von Ihnen sprechen lassen?«

»Ich hoffe es um seiner selbst willen.«

»Wieso?«

»Das Schicksal eines überführten Mörders ist Ihnen bekannt. Doch habe ich Rücksicht auf einige Personen zu nehmen, welche Ihnen nicht weniger bekannt sind, und so bin ich vielleicht zu einigen Concessionen geneigt -«

»Die Sie ihm aber erst dann machen werden, wenn Sie ihn haben!« meinte Säumen, indem er sich erhob.

»O bitte, bleiben Sie sitzen; denn ich habe Ihnen noch zu beweisen, daß ich den Mann wirklich habe.«

»So halten Sie ihn fest. Nur glaube ich leider nicht, daß Sie das Zeug dazu haben.« Mit geringschätzigem Blicke überflog er die schlanke Gestalt des Polizisten und schritt nach der Thür.

»Halt!« klang es ihm da entgegen. Das Wort wurde nicht laut ausgesprochen; aber es lag etwas so Zwingendes in dem Tone und der Haltung des Sprechenden, daß der Baron unwillkürlich stehen blieb.

»Setzen Sie sich noch einen Augenblick; ich werde mich kurz fassen. Und dann mögen Sie entscheiden, ob Sie bleiben oder gehen wollen!«

Er folgte der Weisung, griff aber mit der Hand in die Brusttasche seines Rockes.

»Lassen Sie die Hand von der Tasche, Herr Baron. Der Gebrauch einer Waffe würde Ihre Lage nur verschlimmern. Auch ich bin nicht wehrlos und habe übrigens meine Maßregeln so getroffen, daß Sie auf keinen Fall entkommen werden.«

Säumen sah ein, daß es klug sein werde, sich zu fügen. Inmitten eines jetzt so belebten Ortes war es ihm unmöglich, sich durch einen Schuß den Weg zur Flucht zu bahnen, zumal er die Vorkehrungen nicht kannte, welche Winter jedenfalls getroffen hatte. Er zog die Hand also zurück und meinte im wegwerfenden Tone:

»Ich werde ausnahmweise einmal gehorsam sein. Bitte, expliziren Sie sich!«

»Sie betrachten sich natürlich als meinen Gefangenen.«

»Schön!«

»Doch wird dieses Verhältniß kein auffälliges sein; vielmehr werde ich Sie einladen, sich, natürlich in meiner Begleitung, innerhalb der Stadt jede beliebige Bewegung zu machen.«

»Ein erstaunenswerthe Humanität und Unvorsichtigkeit!«

»Bitte sehr, blos human, nichts weiter! Sie dürfen sogar ihre Waffe behalten.«

»Ist mir lieb!«

»Auch Ihr Notizbuch, welches Ihnen draußen auf dem Felde entfiel.«

»Natürlich. Es hat Niemand das Recht, mir es abzunehmen.«

»Kommt mein Bruder mit Fräulein von Chlowicki wieder wohlbehalten zurück, so wird in einem Familienrathe über das Schicksal jenes Mörders bestimmt.«

»Eine höchst ehrenwerthe und, ich hoffe, nachsichtige Jury!«

»Sind sie verunglückt, so überliefere ich ihn ohne Weiteres der Criminalpolizei, da ich der festen Ueberzeugung bin, daß er in diesem Falle die Ursache des Verlaufes der Luftfahrt ist.«

»Sehr scharfsinnig. Sind Sie zu Ende?«

»Ja.«

»Ich füge mich ihren weisen Anordnungen, obgleich ich weiß, daß ich gerad durch diese Fügsamkeit mich einer Offenherzigkeit schuldig mache, welche ich vermeiden würde, wenn ich nur eine Ahnung von Furcht in mir fühlte. Sie handeln gegen Ihre Pflicht, wenn Sie einen Verbrecher, für dessen Schuld Ihnen die schlagendsten Beweise zur Verfügung stehen, Concessionen machen, und ich glaube also, daß Keiner von uns Beiden den Andern zu fürchten hat. Kommen Sie! Ich höre die Baronin sprechen, und wir müssen ihr das Vergnügen unserer Gesellschaft gönnen.« -

Niemand zweifelte mehr daran, daß das Schicksal des Commissars auch die anderen Insassen des Ballons erreicht habe, und da durch diese Ansicht die Ungewißheit beseitigt war, so legte sich bald die Aufregung und man schritt nun endlich zur Fortfeier des Festes.

Nachdem der Umzug durch die Straßen beendet war, begann das Concert auf dem Festplatze, zu welchem sich eine zahlreiche Zuhörerschaft eingefunden hatte. Arm in Arm gingen auch Winter und Säumen auf und ab, und während scheinbar ihre Aufmerksamkeit den Tönen zugelenkt war, richteten Sie dieselben auf ganz andere Dinge.

Säumen war überzeugt, daß sein Anschlag gegen die Luftfahrer gelungen sei; aber die Absicht, deren Ausführung er damit bezweckt hatte, war damit noch nicht erreicht worden, denn von allen Seiten wuchsen ihm neue Feinde und Mitwisser seiner Vergangenheit heran. Das Einzige, was ihm übrig blieb, war die Flucht. Zwar hatte er die nöthigen Mittel in den Händen; aber sein Begleiter bewachte jede seiner Bewegungen mit scharfem Auge, daß ein Entkommen zu den Unmöglichkeiten gehörte. Aus diesem Gedanken wurde er geweckt durch eine Hand, welche sich auf seine Schulter legte.

»Endlich ist mir geworden das Glück, zu treffen den Herrn Baron.«

Es war der Jude, mit welchem er am Vormittag den Kauf abgeschlossen hatte. Ohne Winter zu beachten, fuhr der ängstliche Geschäftsmann fort:

»Ich habe vernommen, daß verunglückt ist der Herr von der Polizei, welchem ich habe vorgeschossen grausam viel Geld. Was soll ich nun thun mit die Papierchens, welche er hat ausgestellt und die nun sind ohne Werth? Ich werde mir nehmen den Kauf, den er wird haben zu Hause und ihn lassen umschreiben auf meinen Namen.«

Säumen war es um die Erhaltung seines Geldes zu thun, welches er bei sich führte, und schon hatte er deshalb


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eine zustimmende Antwort auf den Lippen, als ihm Winter zuvorkam.

»Das wird nicht leicht möglich sein, mein Lieber. Der Kauf befindet sich bereits wieder Händen des Herrn Barones, welcher seine Besitzungen behalten und Ihnen Ihr Geld zurückerstatten wird. Es befindet sich in seiner Tasche und Sie können es gegen Quittung sofort in Empfang nehmen.«

Säumen wollte einen Widerspruch erheben; aber der Jude ließ ihn nicht dazu kommen.

»Ich habe zu sprechen mit dem Herrn Baron und nicht mit Ihnen. Auch werde ich nicht zurücknehmen das Geld, sondern behalten die Schlösser und Dörfer, welche nun nicht kann besitzen der Herr von Hagen.«

»Ganz wie Sie wollen! Der Herr Baron hat mich mit der Ordnung dieser Angelegenheit betraut, und Sie werden mich morgen am Vormittage in seiner Wohnung finden. Guten Abend!«

»Ist das die Meinung auch von dem gnädigen Herrn Baron?«

»Ja,« antwortete Säumen; »kommen Sie morgen früh zu mir.« Er war froh, auf diese Weise Zeit gewonnen zu haben und schritt rasch am Arme Winters weiter. Eben wollten sie nach dem Hotel einbiegen, als sie von Weitem angerufen wurden.

»Halt, heda, Herr Winter! Endlich kriege ich Sie zu sehen. Hab mich mein Seel ganz außer Athem geloofen, um Sie zu finden und dabei den Juden aus den Augen lassen müssen. Wissen Sie 'was Neues und Gutes?«

»Was denn?« fragte der Angerufene den Schmied; denn er war es.

»Ihr Bruder und Wanda sind glücklich davongekommen; aber der Professor ist todt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Es is vor een Paar Minuten 'ne telegraphische Depesche angekommen. Mit dem letzten Zuge werden die Beeden wohl da sein. Gehn Sie nur gleich zur Baronin; ich weeß nich, ob die's schon erfahren hat. Die Depesche ist natürlich an das hiesige Telegraphenamt gerichtet gewesen, da Ihr Bruder nicht wissen konnte, wo Sie hier abgestiegen sind. Ich will derweile den Blumenkranz oder Blumentopf oder wie er heeßt, wieder ofssuchen.«

»Das ist nicht nothwendig. Er wird selbst kommen, und für jetzt brauchen wir ihn nicht. Kommen Sie mit uns?« -

»Nee, da habe ich noch 'was Besseres zu thun.«

»Was denn?«

»Das werden Sie alleweile schon spüren, wenn es Zeit is!« Bei diesen Worten sprang er davon, und die Nachblickenden sahen, daß er rechts und links den Begegnenden die frohe Botschaft mittheilte.

Bei Frau von Chlowicki angekommen, fanden sie dieselbe schon benachrichtigt. Man hatte von der Station sofort einen Boten abgeschickt, und auch Thomas war gekommen, um ihr die Neuigkeit mitzutheilen. Es litt sie nicht länger in dem Zimmer. Sie ließ anspannen und fuhr nach dem Bahnhofe, um die Ankommenden dort zu erwarten. Es war ihr heut so recht klar geworden, wie lieb ihr das Stiefkind eigentlich sei, und sie nahm sich vor, diese Liebe von jetzt an rückhaltslos und im vollsten Maße über Wanda auszuschütten.

Auch Säumen war es bei der Nachricht leichter um das Herz geworden. Der Professor war jedenfalls von hoch oben herabgestürzt. Wer weiß an welchem Orte und in welchem Zustande er dalag, ja, ob er überhaupt gefunden werden konnte Mit ihm war dann der gefährlichste Zeuge verschwunden, und selbst, wenn man ihn fand, durfte der Baron in Beziehung des gefährlichen Papieres doch auf irgend einen glücklichen Umstand rechnen. Der Zufall war ihm bisher ja immer günstig gewesen und hatte ihn aus so mancher schlimmen Lage befreit.

Da hörte man von der Stadt her weitschallenden Marschschritt, der unter Musikklänge sich dem Bahnhofe näherte. Es waren die schnell versammelten Sänger, an deren Spitze der Schmied marschirte, den mit bunten Quasten und goldenem Knaufe versehenen Kapellmeisterstock schwingend.

Sein breites, ehrliches Gesicht glänzte vor Freude, und als er jetzt nach dem Perron einlenkte und an der Baronin vorüberschritt, nickte er ihr wohlgemuth zu und vollführte mit dem Stocke eine Windmühlendrehung, die ihn fast um seine stattliche Haltung gebracht hätte. Dann gab er mit hoch erhobenem Arme das Zeichen zum Schweigen und comandirte mit dröhnender Stimme:

»Battaillon - - - halt! Rrrrechts - - - umgedreht! So! Und nu bleibt Ihr stehen und rührt Euch nich, bis der Zug kommt. Nachher aber könnt Ihr meinetwegen sprangen so hoch Ihr wollt und dazu rufen und schreien, so laut Ihr wollt. Und wer nich weeß, was er sagen soll, der mag rufen: 'Fife Lamperöhr!' Das klingt halt schön und macht Spektakel, und dazu muß die Musik blasen, was das Zeug hält, immer fest drauf. Und wenn Ihr Eure Sache gut macht, so gebe ich een Faß Lagerbier zum Besten, und andere Leute werden ooch noch een Paar Flaschen draufgeben. Habt Ihrs verstanden?«

Alles lachte. Zwar ließ die Subordination sehr viel zu wünschen übrig; aber die Rede hatte Eindruck gemacht, und als der Zug heranbrauste, konnte man das Rollen seiner Räder nicht hören vor den Jubelrufen der Anwesenden. Unbekümmert um die Menge der Umstehenden nahm die Baronin die wiedergegebene Tochter in ihre Arme und liebkoste sie in überwallender Zärtlichkeit. Winter aber wurde sofort von den Männern in Beschlag genommen und aufgefordert, sein Abenteuer zu erzählen. Er that es mit den nothwendigen Abänderungen und machte sich dann los, um zu der Tante zu kommen, die auch ihn mit Sehnsucht erwartete. Wanda hatte ihr in aller Eile mitgetheilt, was er alles für sie gethan und gewagt, und die alte Dame wollte schier stolz werden bei dem Gedanken, daß dieser Mann ihr Neffe sei.

Unter diesen Vorgängen war es spät geworden, so daß man beschloß, hier zu bleiben und erst am folgendem Tage nach Hause zurückzukehren. Im Hotel angekommen, sollte Emil auch hier seinen Bericht abgeben; aber er wehrt diese Forderung von sich ab.

»Darf ich meine Mittheilungen nicht bis zu einer ruhigeren Stunde aufschieben, liebe Tante? Wir haben des Schrecklichen heut so viel gehabt, daß uns selbst die Erinnerung daran noch aufregen muß.«

»Emil hat Recht, Mama. Du bist heut so lieb und schonend gegen mich; bitte, sei auch nachsichtig gegen ihn. Er hat fast über menschliche Kraft gethan und bedarf der Ruhe.«

»Wahr ists, was Du sagst, und ich werde wohl ver-


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gebens über die Art und Weise nachsinnen, wie ich ihn würdig belohnen kann.«

»Was das betrifft, Tante, so habe ich mir einen Lohn ausgewählt, der jedenfalls viel zu groß ist für das, was mir nur der Zufall zu thun erlaubte. Schau her!« Er legte den Arm um die schöne Cousine, zog sie an sich und drückte seine Lippen küssend auf ihre Stirn.

»Was willst Du damit sagen, Emil? Der Herr Baron -«

»Wird mir seine Rechte abtreten, was ich sofort beweisen werde,« fiel Emil ihr ins Wort. Er griff in die Tasche und wandte sich zu Säumen:

»Der verunglückte Professor hat die Unvorsichtigkeit begangen, ein Papier auf mich zu vererben, welches ich hiermit meinem Bruder mit der Bitte übergebe, damit nach seinem polizeilichem Gewissen zu verfahren.«

Ein einziger Blick machte Säumen Alles klar. Jetzt war Alles entdeckt, und die Stunde der Abrechnung hatte geschlagen. Er wollte um keinen Preis als entlarvter Missethäter vor den Frauen stehen, und der gegenwärtige Augenblick, an welchem die Aufmerksamkeit Aller auf das Papier gerichtet war, bot ihm die beste Gelegenheit zur Flucht. Mit einem raschen Sprunge stand er vor der Thür, riß sie auf, schlug sie hinter sich wieder zu und drehte den Schlüssel um. Dann eilte er die Treppe hinunter und wollte eben auf die Straße treten, als er die kräftige Gestalt des Schmiedes an dem gegenüberliegenden Hause lehnen sah. Schnell entschlossen trat er zurück und öffnete das untere Gastzimmer, um durch dasselbe in den Hofraum und von da durch den Garten ins Freie zu kommen. In der Stube trat ihm der Wirth entgegen.

»Der Herr Baron wollen noch ein wenig frische Abendluft schöpfen?«

»So ist es.«

»Dann nehmen Sie sich in Acht vor -«

Säumen vernahm die übrigen Worte nicht. Er hatte keine Zeit, auf den Mann zu hören und schlug den kürzesten Weg quer über den Hof ein, nach einer Stelle, wo er eine Oeffnung in der Mauer zu bemerken glaubte.

Seine plötzliche Entfernung hatte ihn zwar aus der unmittelbaren Nähe der Feinde gebracht, diesen aber noch nicht die nöthige Besinnung geraubt. Der Schornsteinfeger eilte an die Thür, um dieselbe durch einen kräftigen Druck aufzusprengen, aber sein Bruder rief ihn zurück.

»Halt, Emil, das dauert zu lange. Durch die Hinterthür entkommt er nicht; dahin habe ich Deinen Gräßler gestellt. Er wird durch den Garten gehen. Dort steht Thomas; aber der ist wohl nicht stark genug.« Er riß die Thür zu dem Hinterzimmer auf, öffnete das Fenster, und ohne ein Wort zu verlieren oder auf die Zurufe und Fragen der Frauen zu hören, standen die beiden Brüder im nächsten Augenblick im Garten.

Der Flüchtling konnte noch nicht hier sein, da sie den kürzesten Weg eingeschlagen hatten, und so lauschten Sie aufmerksam auf sein Kommen. Da ertönte vom Hofe her ein lautes Krachen, welchem ein Schreckensruf folgte.

»Rasch, Emil!« rief der Polizist. »Er ist in den alten Brunnen gestürzt, welchen ich heut dort an der Mauer bemerkt habe. Der Wirth hat eine Reparatur daran vornehmen lassen und die Oeffnung jedenfalls nur leicht verdeckt.«

Als sie an der Stelle ankamen, wollten sie eben über die Mauer steigen, als sie bemerkten, daß der Wirth mir einigen seiner Gäste herbeieilte, welche das Krachen und den Schrei vernommen hatten.

»Bleib hier! Die dürfen nicht wissen, daß wir ihn verfolgten und er also geflohen ist.«

»Du hast Recht. Er muß im Auge eines jeden Andern der Baron Säumen bleiben, um unserer Frauen willen. Die da drüben sind Mannes genug, um das Nothwendige zu thun.«

Ueber den Zaun springend, kehrten sie durch die Straße in das Haus zurück, wo die Damen ihrer voller Angst warteten und sie um Aufklärung baten.

»Nachher, liebe Tante; denn ich sehe, daß die Verschwiegenheit jetzt zu Ende gehen muß. Für diesen Augenblick aber werden wir in Anspruch genommen sein. Ich höre Jemanden kommen, jedenfalls ist es der Wirth.«

Wirklich trat der Genannte ein und meldete nach einer Bitte um Entschuldigung und Fassung, daß dem Herrn Baron von Säumen ein großes Unglück passirt sei.

»Er schien große Eile zu haben und hörte meine Warnung gar nicht, die ich ihm in Betreff des Brunnens nachrief. Leider ist diese nur zu begründet gewesen, denn -«

»Ich ahne, um was es sich handelt. Wir werden sofort unten sein. Lassen Sie schnell einen Arzt kommen!« schnitt ihm Winter die Rede ab. Der Arme war so voller Angst, daß ihm dicke Schweißtropfen auf der Stirn standen und er die Worte mehr stotterte als sprach. Er zog sich eilig zurück.

»Mein Gott, so sprecht doch!« rief die Baronin.

»Ließ hier dieses Blatt, Tante, während wir hinunter spazieren. Es wird Dir Alles sagen, und was Dir noch unverständlich ist, kann Wanda Dir während unserer Abwesenheit erklären.«

»Ich bin nicht Schuld!« rief ihnen der Wirth bei ihrer Ankunft entgegen. »Ich habe ihn gewarnt, und nun ist er jedenfalls todt. Der Brunnen war fast bis oben voll Wasser, welches durch unreinen Zufluß so ungenießbar geworden war, daß wir lange Zeit gar nicht davon geschöpft haben.«

»Ich habe ihn, ich habe ihn!« rief plötzlich die Stimme des Hausknechtes, welcher mit einer Stange das Wasser sondirte. »Der ist todt! Laternen her und dort die Feuerhaken von der Wand!« - - -

Einige Stunden waren vergangen. Der Ertrunkene lag im Hospital und hatte durch seinen Tod alle Schwierigkeiten gelöst, welche die letzte Zeit entwickelt hatte. Während Alles die Baronin und ihre Tochter in tiefer Betrübniß wähnte, unterhielt sich die Erstere mit dem Polizisten, während Letztere an der Seite Emils am Fenster lehnte und Worte der Liebe und des Glückes wechselte.

»So hat sich Alles zur Zufriedenheit gestaltet, und selbst der Jude erhält sein Geld zurück, welches sich noch in der Brieftasche des Todten vorfand.«

»Und Du quittirst also den Polizeidienst?«

»Gern, Tantchen, wenn ich bei Dir bleiben darf. Ich habe in dieser Angelegenheit so wenig polizeilichen Takt bewiesen, daß ich endlich einsehe, wie wenig ich für diesen Beruf geschaffen bin.«

Am Fenster wurden weniger geschäftliche Dinge besprochen. Es war die Rede von Lieblingsliedern, und Wanda behauptete, das schönste Lied, welches sie kenne, habe einst ein angehender Schmiedelehrling auf einen gewissen Wildfang


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im Walde gedichtet und sei von einem Essenkehrer einer unartigen Baronesse vorgesungen worden. Emil gab sich alle erdenkliche Mühe, dieses Lied zu errathen, als unten vor dem Hause ein leises Getrappel hörbar wurde und dann eine tiefe Baßstimme herauf rief:

»Offgespaßt da oben; itzt gehts los!«

Dann folgte nach einer kleinen Pause in vollen, reinen Männerstimmen jenes prächtige:

»Ich will Dich auf den Händen tragen
Und Dir mein ganzes Leben weihn.
Ich will in Deinen Erdentagen
Dir stets ein treuer Engel sein!«

Und als Emil das Fenster öffnete, um sich für das Ständchen zu bedanken, ertönte dieselbe Baßstimme:

»Hab ichs alleweil getroffen, Alter, von wegen der Verlobung?«

»Ich wills nicht bestreiten, Anton.«

»Hab mirs gedacht, obgleichs een Anderer nich zuwege gebracht hätte. Een Essenkehrer und 'ne Baronin! Bist mein Seel' een ganzer Kerl; weshalb, das brauchte ich ooch itzt nich erst zu sagen. Offgepaßt Ihr Leute! Fife Lamporör unser Vorsteher zum ersten Male, zum zweeten Male und zum dritten Male! Das Faß von mir is leer; morgen bist Du an der Reihe. Gute Nacht, Emil, altes Haus! – –«

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Ende des siebzehnten und letzten Teils.



Karl May: Wanda