Nummer 43 Der Beobachter an der Elbe.
Unterhaltungsblätter für Jedermann.
Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden.
2. Jahrg.


Wanda.

Novelle von Karl May.
28. Juli 1875


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Die beiden Zurückbleibenden hatten jetzt nicht Zeit, dieses Unglück zu betrauern; sie mußten an sich selbst denken. Für den Augenblick freilich waren sie gesichert. Wanda saß auf der Stelle, wohin er sie gezogen hatte und hielt sich mit den Händen an den beiden Haltern fest, zwischen denen sie sich befand. Obgleich ihr das Herz zitterte, suchte sie doch ein Lächeln hervorzubringen, um den Geliebten zu beruhigen. Es gelang, und nun wagte Emil den ersten Bick in die Höhe.

Die Last war verrückt worden, und so hatte sich der Ballon auf die Seite geneigt. Der Professor war nicht zu sehen. War auch er hinabgestürzt oder - doch nein, die Neigung des Ballons hatte ihn dem Auge Winters entzogen, und gerade jetzt kam er vorsichtig von der andern Seite heruntergestiegen, um den Erfolg seine Experimentes in Augenschein zu nehmen. Mit Schrecken aber bemerkte er, daß nur Einer von den drei Leuten fehlte und die beiden Anderen sich festgehalten hatten.

Auch sie mußten hinunter; denn jetzt war ihr Tod die einzige Rettung für ihn. Er kletterte weiter, bis er über ihnen auf dem Ringe stand, welcher sich um den unteren Theil des Ballons legte. Während er sich mit der Linken festhielt, zog er mit der Rechten ein Messer aus der Tasche, öffnete es mit Hülfe der Zähne und bog sich nieder, um die Seile zu zerschneiden, an denen Winter und das Mädchen sich festhielten.

Letzterer hatte bisher kein Wort gesprochen; jetzt aber griff er in die Tasche und zog ein Terzerol hervor. Er segnete die Mahnung seines Bruders, für den Nothfall eine Waffe zu sich zu stecken und rief drohend:

»Halt, elender Mörder! Sobald Du den ersten Schnitt versuchst, bist Du des Todes!«

Der Angeredete blickte herab. Er sah die Waffe; aber er durfte auf sie keine Rücksicht nehmen. Gehorchte er, so befand er sich in den Händen Winters und war verloren. Ein Schnitt jedoch in das Seil, an welchem dieser sich festhielt, mußte ihm die Sicherheit des Zielens rauben und zugleich ihn in Tiefe stürzen. Rasch bückte er sich und bewegte die Hand zum Schneiden. Da krachte der Schuß, dessen Schall durch die Dünne der Luft bedeutend abgeschwächt wurde und der Getroffene zuckte zusammen.

Die Kugel war ihm in den Oberarm gedrungen und hatte den Knochen verletzt. Einen Schmerzenslaut ausstoßend, ließ er das Messer fallen, schien ins Schwanken zu gerathen, raffte sich aber zusammen und klammerte mit dem andern Arme wieder fest.


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»So, Du bist mir sicher!« sprach Winter, das Terzerol wieder einsteckend. Dann musterte er, ihn weiter keine Aufmerksamkeit schenkend, das Netzwerk.

»Die Gondel ist nur mit Hülfe mehrere Menschenkräfte in ihre frühere Lage zu bringen; ich allein vermag es nicht. Ich werde Dich festbinden, damit Du für jetzt wenigstens gesichert bist, und dann versuchen, den Ballon zum Sinken zu bringen.«

Er glitt vorsichtig vorwärts, zog sein Federmesser und schnitt einen der niederhängenden Gondelhalter von dem Ringe los, an welchem er befestigt war. Dann kehrte er ebenso behutsam zurück und bildete mit Hülfe des Strickes um Wanda ein Flechtwerk, welches sie vor jedem Falle behüten mußte. Dann schickte er sich an, nach Oben zu steigen. Die Klappenschnur war ihm jetzt unzugänglich, und er mußte die Hälfte des Ballons umklettern, um sie zu erreichen.

»Wo willst Du hin, Emil?« fragte Wanda, für ihn zitternd; denn jede seiner Bewegungen konnte ihn dem Tode in die Arme liefern.

»Ich muß die Klappe öffnen, damit wir sinken.«

»Thue es nicht. Du wirst hinabstürzen!«

»Es muß geschehen, wenn wir wieder zur Erde kommen sollen. Du darfst nicht Angst um mich haben. Seit ich Dich in Sicherheit sehe, bin ich ruhig.«

Während der letzten Worte zuckte ein flammender Wetterschein tief unter ihnen hin. Es war als stände das ganze unter ihnen fluthende Luftmeer in Flammen, und kurze Zeit darauf tönte ein leises, rollendes Gemurmel zu ihnen empor.

»Ein Gewitter. Es war Mittags sehr heiß. Aber jetzt dürfen wir nicht sinken, sonst kommen wir mitten in das Wetter hinein und werden von den verschiedenen Strömungen hin und her geschleudert.«

Diese Strömungen äußerten ihren Einfluß auch auf die äußeren Luftschichten. Zwar boten die unter ihnen sich ballenden Wolken, da sie sich selbst in Bewegung befanden, keinen sicheren Augenpunkt, aber es war trotzdem zu bemerken, daß der Ballon eine andere Richtung eingeschlagen hatte und mit vermehrter Geschwindigkeit vorwärts ging. Die Luftbewegung hatte also ihre Richtung geändert und auch ihre Schnelligkeit verstärkt.

In einer gesicherten Lage hätte der großartige Anblick des unter ihnen leuchtenden Wetters ihnen eine noch nie von oben gehabten, fesselnden Genuß gewährt. Jetzt aber waren ganz andere Gedanken zu hegen. Winter arbeitete sich empor bis zu dem Professor, zog sein Taschentuch und versuchte, den Arm desselben an das Netzwerk zu befestigen. Es gelang nach einigen vergeblichen Versuchen, bei welchen von beiden Seiten nicht ein Laut gesprochen wurde. Der Verwundete hielt die Augen geschlossen, ob aus Schwäche oder Scham, es war auch gleichgültig. Es galt nur, sich den Menschen zu sichern, da seine Aussagen nothwendig gebraucht werden konnten.

Sodann kletterte er um den Ballon herum und gelangte auf diese Weise zur Schnur. Ein Blick in die Tiefe zeigte ihm das Gewitter seitwärts und unter sich die reinste Luft.

Er zog. Das Ventil öffnete sich; mit einem leise pfeifenden Rauschen strömte das Gas heraus, und die Wolken schienen in der Ferne in die Höhe zu steigen. Das war ein Beweis, daß der Ballon fiel. Die erst so glatt angespannte Taffetmasse legte sich nach und nach in Falten, wodurch die Schwierigkeit des Kletterns in Etwas vermindert wurde; aber durch die Verschiedenheit der hier unten herrschenden Strömungen wurden die Bewegungen des Ballons so Gefahr drohend, daß Winter, um nicht hinabgeschleudert zu werden, sich mit Aufbietung aller Kräfte festklammern mußte.

Vorsichtiger Weise ließ er das Gas nur in einzelnen Zwischenräumen ausströmen, so daß das Sinken langsam vor sich ging, und mit gespannter Aufmerksamkeit richtete er den Blick hinunter, wo sich bald der Anblick der Erde bieten mußte.

Zwischen einzelnen leichten Wolkenstreifen drangen die Reflexe des niederfallenden Sonnenlichtes empor. Die Streifen näherten sich, und als ihre Feuchtigkeit, die sich in Nebelform um die Luftschiffer legte, durchdrungen war, lag die Oberfläche der Erde in von dem Regen erfrischten Grün unter ihnen.

Winter strengte die ganze Sehkraft seines Auges an, die Gegend zu erkennen, welcher sie sich nahten. Es war ein dichtbewaldetes Gebirgsvorland, welches in der Ferne einige Dörfer und Flecken zeigte; aber unter ihnen lag dichter Forst, in welchem keine Spur einer menschlichen Wohnung zu entdecken war.

Gern wäre er wieder um Etwas emporgestiegen; aber es war unmöglich, zu dem Sande zu gelangen, und da hier unten die Luft fast bewegungslos war und der Ballon sich langsam und gleichmäßig fortbewegte, so versuchte er vollends nieder zu gehen.

An eine Anwendung der hierbei gewöhnlichen Vorrichtungen war hierbei allerdings nicht zu denken; aber das Seil, an welchem er bei Beginn der verhängnißvollen Fahrt emporgeklettert war, wurde noch jetzt nachgeschleppt und konnte auch jetzt von Nutzen sein.

Ehe er aber das Letztere versuchen wollte, stieg er soweit zurück, daß er Wanda zu Gesichte bekam. Noch saß sie an derselben Stelle und blickte mit angsterfüllten Zügen empor zu dem Punkte, wo sie ihn verschwinden gesehen hatte.

»Bist Du noch wohl, Wanda?«

»Ja, aber ich bin fast todt vor Sorge um Dich!«

Trotz der bedenklichen Lage, in welcher sie sich befanden, konnte er doch ein Lächeln über diese sich selbst widersprechende Antwort nicht unterdrücken.

»Sei vorsichtig und halte Dich fest. Wir werden gleich den Wald erreichen.«

Er stieg wieder empor und zog das Ventil. Der Ballon sank und strich im Sinken über die Wipfel der Bäume hin. Winter griff fester zu, um bei einem Rucke nicht herabzustürzen und ließ die Klappe sich schließen. Da - ein Ruck, als solle der Ballon in den Erdboden hineingezogen werden, ein Rascheln und Brechen in den Aesten unter ihnen, und dann drehte sich die halb zusammen geschrumpfte Taffetmasse um ihre eigene Axe. Das Seil hatte sich in den Bäumen verwickelt, einen festen Halt gefunden, und so wurde der Ballon gehalten. Aber die Axendrehung konnte gefährlich werden. Winter zog leise das Ventil auf und gewährte dem Gase einen langsamen und spärlichen Abfluß. Ebenso langsam sank der Ballon vollends nieder, legte sich auf die Seite und ward von den Zweigen, in welche sich das Netzwerk verfitzte, festgehalten.

Mit einem kräftigen Zuge riß er das Ventil weit auf, so daß der Taffet zusammenfiel und sich wie eine Decke auf die Wipfel legte und so eine Unterlage bildete, auf welcher Emil ohne alle Verletzung zu liegen kam.


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»Wanda, Wanda, wo bist Du?« rief er jetzt, da er seine Sorge nun ausschließlich auf sie richten konnte.

»Hier zwischen den Bäumen hänge ich in voller Sicherheit, und Du?«

»Auch ich habe keinen Schaden genommen. Ich werde gleich bei Dir sein!«

Zwar kostete es einige Anstrengung, von seinem erhabenen Standpunkte herabzukommen, aber es gelang, und als er den festen Boden unter seinen Füßen fühlte, erblickte er auch die Gondel, welche sich zwischen zwei Bäume eingeklemmt hatte, aus deren Zweigwerk ihm das bleiche Gesicht. Wanda's entgegenglänzte.

»Wie werde ich Dich von da oben herunterbringen?« fragte er in einiger Verlegenheit.

»Das wird nicht so schwierig sein. Ich verlasse mich auf Deinen Scharfsinn.«

»Ich muß eine Strickleiter aus dem Netzwerk anfertigen und - aber warte, vielleicht geht es so schneller und besser!«

Er suchte den Baum, an welchem das nachgeschleppte Seil hing, kletterte hinauf und schnitt es ab. Zwar hatte er einige Zeit angestrengt zu arbeiten, ehe er es vollständig klar machen konnte, aber es gelang endlich doch. Dann kehrte er zurück und versuchte durch kräftiges Ziehen die Gondel weiter abwärts zu bringen. Auch das gelang. Das in den Aesten hängende Netzwerk hielt das Schiffchen fest, so daß ein Sturz nicht stattfinden konnte; Wanda half dich die Entfernung des hindernden Zweiges nach, und näherte sich auf diese Weise endlich so weit dem Boden, daß sie denselben durch einen etwas beherzten Sprung erreichen konnte.

»Soll ich Dich losmachen?«

»Danke, nein. Ich bringe es selbst fertig.«

Sie wickelte das Seil von sich ab, schickte sich zum Sprung an und lag in dem nächsten Augenblicke in den Armen Winters, der sie aufgefangen hatte.

»Wanda!« rief er im überströmenden Gefühle des Glückes.

Sie aber antwortete nicht, und als er fühlte wie schwer sie an ihm hing und ihr in das Angesicht blickte, erkannte er, daß sie ohnmächtig sei. So lange die Gefahr angehalten hatte, war sie stark gewesen; jetzt aber, wo Alles vorüber und keine Anstrengung mehr nothwendig war, hatte sich die kräftig verleugnete Weiblichkeit geltend gemacht und sie in eine wohlthuende Bewußtlosigkeit gebettet.

Winter fühlte sich hierdurch nicht im Geringsten beängstigt, er wußte, daß dieser Zustand ihr neue Kräfte geben und bald vorübergehen werde. Er legte sie vorsichtig in's weiche Moos nieder und wollte sich entfernen, um nun nach dem Professor zu sehen; aber als er noch einen Blick zurückwarf auf die Daliegende, wurde er von dem Zauber ihrer Schönheit so erfaßt, daß er wieder zurückkehrte und neben ihr niederkniete.

Er nahm ihr schönes, von weichen blonden Locken umwalltes Köpfchen in seine Arme und drückte Kuß um Kuß auf die jetzt bleichen Lippen, gerade so wie damals, als sie in der Höhle des Felsenbruches vor ihm lag und dann bei dem Erwachen vor Zorn erglühend aufgesprungen war.

Auch jetzt schlug sie die Augen, diese wunderbaren Augen auf; aber nicht zornig blickte sie, als sie seinen Kuß fühlte, sondern selige Freude leuchtete aus ihnen, und beide Arme schlang sie, ihn fest an sich ziehend, um seinen Nacken.

»Emil, mein Emil, Du lieber, starker Mann, der immer da ist, wenn ich in Gefahr bin und dem mein Leben schon doppelt und dreifach gehört, wie habe ich Dich so lieb, so unendlich lieb!«

»Ist das wahr, Wanda?«

»O, Du hast es ja schon längst gewußt, viel eher noch als ich!«

»Und nun willst Du mein sein, ganz und immer mein?«

»Ganz und immer!«

»Dann bin ich namenlos glücklich und danke von ganzem Herzen dem lieben Gott, der uns einst im Walde zusammenführte für nur kurze Zeit und nun im Walde vereinigt für die ganze Dauer des Lebens. Wanda, welche eine Stunde ist die jetzige!«

»Eine schöne und eine heilige, Emil. Und in dieser heiligen Stunde will ich Dir Etwas versprechen, was Dein Glück verdoppeln wird.«

»Sprich!«

»Ich werde nie, nie wieder so sein, wie ich gewesen bin, sondern fein gehorsam und demüthig. Heut, als ich da oben auf dem Rande der Gondel saß und sah, mit welcher Sicherheit und welchem Muthe Du handeltest, um mich zu retten, und als Du dann auf so lange Zeit meinem Auge entschwunden warst und ich mich so allein fühlte in der öden, gefährlichen Höhe, da fühlte ich, welch ein schwaches Wesen ich bin und gelobte, Dir unterthan zu sein allzeit, wenn Gott uns für einander erhalten werde.«

»Wanda!« Mehr konnte Winter nicht sagen. Er war tief ergriffen von den frommen, selbstverleugnenden Worten des schönen, sonst so stolzen und selbstbewußten Wesens, und mit bebenden Lippen sog er die Thränentropfen von ihren Wimpern.

Da tönte ein, schweres röchelndes Aechzen aus den Zweigen zu ihnen herab.

»Was war das?« fragte Wanda.

»Das war der Professor, welchen wir über unser Glück vergessen haben,« entgegnete Winter und sprang auf. Er sprang auf und ging den Lauten nach und fand nach einigen Suchen den Urheber derselben, noch mit dem Arme an das Netzwerk gefesselt, an einem abgebrochenen Aste hängen, dessen Rumpf ihm tief in den Leib gedrungen war.

Die Verletzung mußte eine tödtliche sein. Das Blut lief ihm aus Mund und Nase; das Stöhnen wurde kürzer und schwächer, und als Winter sich zu ihm hinaufgearbeitet hatte, lief ein convulsivisches Zittern durch den aufgespießten Körper der dann schlaff zusammensank.

»Bitte, Wanda, tritt von da unten weg. Er ist todt, und sein Anblick ist nicht für Dich.«

Sie gehorchte seiner Mahnung. Mit einem kräftigen Aufstämmen des Fußes brach er den Ast los, und der Leichnam stürzte zur Erde herab. Unten bei ihm angekommen, überzeugte sich Winter, daß keine Spur von Leben mehr in dem Körper sei und untersuchte darauf die Taschen des Unglücklichen.

Da entfuhr ein Ausruf der Ueberraschung seinem Munde und mit heftigen Schritten trat er zu dem Orte, an welchem Wanda auf ihn wartete.

»Erschrick nicht, mein Herz; ich habe Dir eine entsetzliche Mittheilung zu machen!«

»Welche? Nach dem, was mir heute widerfahren ist, wird mir das Erschrecken schwer fallen.«

»Daß Du Säumen nie geliebt hast, weiß ich.«


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»Verachtet habe ich ihn.«

»Und daß es wenigstens irgend eine unbestimmte Ahnung im Bezug auf seine Lebensstellung und seine Absichten in Dir gegeben hat, habe ich auch stets angenommen.«

»Du kannst Recht haben. Ich litt seine Annäherung wirklich nur aus Rücksichten auf Mama, die ich nicht in Armuth sehen mag.«

»Und diese Annäherung hat Dich in mehrfache Gefahr gebracht. Da lies dieses Schriftstück, welches in der Brieftasche des Professors lag.«

Sie nahm das Papier in die Hand, und während ihre Augen dasselbe überflogen, breitete sich tiefe Blässe über ihr Angesicht.

»Das ist schrecklich! Jenes Vorkommniß im Felsenbruche hatte zuerst dunkle Befürchtungen in mir wachgerufen; doch drängten sich dieselben immer wieder zurück, weil sie mir zu ungeheuerlich erschienen. Und jetzt bestätigen sich jene Vermuthungen, die Du jedenfalls auch gehabt hast, auf eine so fürchterliche Weise!«

»Bei mir waren es nicht bloße Vermuthungen, sondern ich hatte die vollständige Ueberzeugung, daß Säumen ein Betrüger sei, obgleich ich keinen vollgültigen Beweis gegen ihn in den Händen hatte.«

»Ein Betrüger? Das wohl nicht, sondern vielmehr ein Mörder!«

»Auch das Erstere. Ein wirklicher Säumen ist einer unehrenhaften Handlung nicht fähig.«

»Was Du da andeutest ist ja vollständig unmöglich!« rief sie erschrocken. »Und wenn es so wäre, so könnte ich die Schande nicht überleben.«

»Sei ruhig, mein Herz. Es erwarten Dich vielleicht heut noch schlimme Aufklärungen; aber Du darfst überzeugt sein, daß bei Allem, was geschieht, die strengste Rücksicht auf die Ehre Deines Names genommen wird. Jetzt aber müssen wir vor allen Dingen an den gegenwärtigen Augenblick denken. Ich werde den Todten mit Zweigen bedecken, und dann versuchen wir in die Nähe von Menschen zu kommen. Magst Du Dich mir auf dem Gang durch den tiefen, dunklen Forst anvertrauen?«

Mit innigem Aufleuchten senkte sich ihr Blick in seine Augen, als sie erwiederte:

»Ich bin Dein für's ganze Leben, mein Emil. Gehe mit mir, wohin Du willst; ich folge Dir.« -

- - Als nach Aufsteigen des Ballons sich die Wagen in Bewegung gesetzt hatten, waren sie mit der größtmöglichsten Geschwindigkeit der vorgezeichneten Richtung gefolgt und nur kurze Zeit nach dem Zuge eingetroffen. In größter Aufregung erwartete man die Ankunft der Luftfahrer. Das Interesse für die Wetten war zurückgetreten, da man ja nur das Resultat derselben kannte, die allgemeine Theilnahme hatte sich dem vermuthlichen Schicksale Winters zugewandt, der nach der Annahme Aller blos von dem Zufalle mit emporgerissen worden war.

Längst schon waren die Sängergäste eingetroffen. Die Bewohner des Ortes hatten die Straßen und offenen Plätze desselben mit Flaggen und Guirlanden geschmückt; aber der Festumzug konnte noch immer nicht beginnen, weil sämmtliche Theilnehmer draußen im Freien standen, um das Niedersteigen des Ballons abzuwarten.

In der allergrößten Sorge befand sich die Baronin. Sie hatte sich im Hotel ein Zimmer geben lassen und schritt ruhelos in demselben auf und ab. Emils Bruder und der Baron befanden sich bei ihr Ersterer stand schweigend am Fenster und theilte seine Aufmerksamkeit zwischen dem Barone, den er kaum aus den Augen ließ und den Wolken, zwischen denen jeden Augenblick die Erwarteten erscheinen konnten.

Säumen saß in nachlässiger Haltung auf dem Stuhle und konnte ein Lächeln des Triumphes immer weniger verbergen, je mehr die Zeit verstrich. Trotz dieser inneren Befriedigung sprach er zuweilen ein beruhigendes Wort zu der alten Dame, die beobachtenden Blicke Winters gar nicht zu bemerken scheinend.

Da öffnete sich die Thür und die Zofe erschien auf der Schwelle.

»Herr Winter, es ist ein Mann draußen, der mit Ihnen sprechen will.«

Der Angeredete stand auf und trat hinaus auf den Vorsaal, wo der Schmied sein wartete.

»Nehmen Sie's nich übel, daß ich störe; aber Ihr Bruder und ooch Sie haben gesagt, daß wir uns zu Ihnen halten sollen und doch läßt sich Keener sehen. Wo is der Baron?«

»Drinnen.«

»Wissen Sie was Neues?«

»Was?«

»Er hat verkooft.«

»Verkauft? Was?«

»Nu, Alles, seine ganzen Besitzungen.«

»Wann?«

»Vorhin, ehe die Fahrt losging.«

»An wem?«

»An den Commissar Hagen.«

»Der hat kein Geld. Das muß ein Irrthum sein.«

»Geld hat der Kerl allerdings nich, aber een Jude aus der Hauptstadt muß ihm das Nöthige vorgeschossen haben. Blumenbach oder Blumenthal, meinetwegen ooch Blumenfeld heeßt der Mann und hat mir im Coupee Alles erzählt.«

»Gut. Behalten Sie ihn im Auge. Vielleicht brauchen wir ihn.«

Als er in das Zimmer zurücktrat, ließ sich der erste Donnerschlag vernehmen, und die Baronin sank, die Augen mit beiden Händen bedeckend in das Sopha.

»Mein Gott; jetzt sind sie verloren, jetzt ist jede Hoffnung vergeblich!«

»Noch nicht, gnädige Frau,« sprach Winter. »Wenn sie sich über den Wolkenschichten befinden, so haben Sie nichts zu befürchten. Ich vermuthe sehr, daß sie von einer widrigen Luftströmung von der eingeschlagenen Richtung abgetrieben worden sind.«

Er erhielt keine Antwort. Das Wetter entlud sich in ungewöhnlicher Macht über der Gegend; Blitz folgte auf Blitz und das Grollen des Donners rollte ohne Aufhören fort. Aber gerade dadurch beschleunigte sich die Ausgleichung der angesammelten Electricität, und nach kurzer Zeit brach die Sonne sich wieder lichte Bahn.

Da bemerkte man eiliges Laufen auf den Straßen, laute Zurufe ließen sich vernehmen, und als Winter das Fenster öffnete, um nach der Ursache dieser Aufregung zu sehen, bemerkte er Thomas raschen Schrittes auf das Gasthaus zukommen. Da er eine Unglücksbotschaft vermuthete, ging er ihm entgegen.

»Sie sind verunglückt, Herr Winter; erschrecken Sie nich!« rief ihm der Buchbinder schon unten auf der Treppe entgegen.

»Woher weißt Du das?«


// 688 //

»Dreiviertel Stunden von hier is Eener von ihnen niedergestürzt. Der Bauer, off dessen Feld er liegt, is selber da, um es uns zu melden. Er hat von der Luftfahrt gehört und ooch von der Wette und weeß also, daß die Angehörigen hier sind.«

»Holen Sie ihn; er soll unten warten, bis ich hinab komme. Und befehlen Sie sogleich dem Hausknechte, anzuspannen.«

Hierauf kehrte er zur Baronin zurück.

»Man hat eine Spur der Erwarteten entdeckt, gnädige Tante. Wollen Sie mir erlauben, mich in Ihrem Wagen an den Ort zu begeben, um zu sehen, ob etwas Wahres an der Nachricht ist?«

»Ich fahre selbst mit,« antwortete sie und erhob sich, sank aber wieder zurück. »Doch nein, es geht nicht; ich bin zu angegriffen. Fahren Sie also ohne mich und kehren Sie schnell zurück. Leben sie noch?«

»Ich hoffe es. Herr Baron, Sie haben doch die Güte, mich zu begleiten!«

»Ich kann Madame unmöglich allein lassen, das sehen Sie doch.«

»Madame hat ihre Bedienung hier und wird weibliche Hülfe wünschenswerther finden als ein andere. Oder ist Ihnen das Schicksal der Expedition gleichgültig?«

Es lag sehr viel Wahres in dieser letzten Bemerkung. Säumen mußte ja möglichst zuerst wissen, was aus den vier Leuten geworden war, um seine Maßregeln darnach ergreifen zu können. Er erhob sich also.

»Ich kann unmöglich gleichgültig sein, wo es sich um das Schicksal meiner Verlobten handelt. Wenn die Frau Baronin erlauben, gehe ich also mit.«

»Jawohl, gehen Sie und bringen Sie mir schleunigst Nachricht!«

Die beiden Männer entfernten sich. Unten schirrte der Kutscher eben die Pferde vor, und nach einigen Augenblicken konnte man einsteigen. Säumen saß neben Winter im Plafond, während Thomas an der Seite des Landmannes sich auf den Rücksitz placirte.

»Zugefahren, Kutscher!« rief Winter, und die Equipage rollte im Galopp davon.

Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen. Der Bauer schien zwar einen Bericht beginnen zu wollen, aber der Polizist winkte ihm Schweigen zu. Es lag ihm daran, den Baron jetzt noch in Ungewißheit zu lassen, um ihn später desto sicherer beobachten zu können und ihm keine Zeit zu Plänen zu geben.

»Da drüben auf der Stoppel ist es, wir müssen also hier einbiegen,« klang es nach einiger Zeit, während welcher Jeder seinen Gedanken und Gefühlen Raum gegeben hatte. »Es war kurz vor dem Beginn des Regens, und ich habe gar nicht erst Anzeige im Dorfe gemacht, sondern bin gleich stracks nach der Stadt gelaufen, weil ich mir denken konnte, daß Sie neugierig sein würden, wie die Sache abgelaufen ist.«

Jetzt hielt der Wagen. Seitwärts von ihm lag eine formlose Masse, in welcher man nur bei näherer Betrachtung einen Menschen zu erkennen vermochte. Den Männern grauste es, und selbst dem Barone überkam ein bisher noch nie empfundenes Gefühl, welches er nicht zu bezeichnen sich getraute.

Bald aber hatte er es überwunden und bückte sich nieder, um den Zerschmetterten zu untersuchen.

»Es ist der Commissar Hagen. Zwar ist der Körper vollständig unkenntlich; aber hier ist ein Büschel seines weißgelben Haares, und diese Stiefel habe ich heut Vormittag noch bei ihm gesehen, als er mich besuchte.«

»Das war jedenfalls, als Sie den Kauf mit ihm abschlossen, Herr Baron,« sprach Winter wie absichtslos; aber trotzdem brachten seine Worte eine ungeheure Wirkung auf Säumen hervor. Mit aufgerissenen Augen in den schreckensbleichem Angesichte starrte er den Sprecher an; doch faßte er auch jetzt sich wieder und antwortete sich zu Erde beugend und den Leichnam betastend:

»Haben Sie eine Interesse für meine Privatangelegenheiten?«

»Vielleicht, noch mehr aber interessire ich mich für den Gegenstand, welchen Sie hier von der Erde nehmen.«

»Soll ich vielleicht meine Brieftasche liegen lassen, wenn sie mir beim Bücken entfällt?«

»Das wird Ihnen allerdings Niemand zumuthen; aber bitte, verwahren Sie das Portefeuille von jetzt an besser!« antwortete Winter. Er wußte, daß es dem Todten gehöre; aber es war jedenfalls jetzt besser für seine Absichten aufgehob en, als in den Händen der Commission, welche auf die zu erfolgende Anzeige hier erscheinen mußte. Und da die beiden Andern zu sehr mit dem Verunglückten beschäftigt waren, als daß sie das kleine Intermezzo bemerkt hätten, so ließ er es ruhig geschehen, daß Säumen die Tasche zu sich nahm.

»Allerdings ist es Hagen,« wandte er sich an Thomas; »und es ist nun fast nicht zu bezweifeln, daß dasselbe Schicksal auch die Andern betroffen hat. Trotzdem aber ist der Fall denkbar, daß der Commissar nur in Folge einer Unvorsichtigkeit verunglückt ist, und wir dürfen deshalb immer noch so lange Hoffnung hegen, bis man auch die Andern findet. Nach ihnen zu suchen, wäre ein mühevolles und vielleicht erfolgloses Unternehmen, und so wird es gerathen sein, in die Stadt zurückzukehren und weitere Nachrichten ruhig zu er warten. - Sie aber,« bedeutete er den Bauer; »müssen sofort das Versäumte nachholen und bei Ihrer Ortsbehörde Anzeige von dem Funde machen. Aber eilen Sie; der Platz wird nicht lange unbesucht bleiben, und wir haben keine Zeit, uns als Wächter herzustellen.«

Sie stiegen ein, um nach der Stadt zurückzukehren. Unterwegs begegneten ihnen Schaaren von Neugierigen, welche den Spuren des Wagens gefolgt waren, um die Unglücks stätte zu finden. Ohne die Fragen dieser Leute zu berücksichtigen, fuhren sie an ihnen vorüber und hielten bald vor dem Hotel, wo ihnen diesmal der Wirth selbst beim Aussteigen behülflich war.

Winter bemerkte, daß er einen eigenthümlich forschenden Blick auf den Baron warf und sah dann, als Säumen hinter der Thür verschwunden war, diesen Blick mit einer Art fragenden Einverständnisses auf sich gerichtet.

»Sie haben mir etwas zu sagen?«

»Wenn sie erlauben und discret sein wollen.«

»Das werde ich. Sprechen Sie!«


Ende des sechzehnten Teils – Schluss folgt.



Karl May: Wanda