Nummer 10 | Deutsches
Familienblatt. Wochenschrift für Geist und Gemüth. 1. Jahrg. Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden, Jagdweg 14. Old Firehand. von Karl May. |
6. November 1875 |
// 155 //
Er griff in den Gürtel und wollte sich auf Winnetou stürzen, welcher mir gefolgt war und nun in aufrechter, zuwartender Stellung seitwärts im Halbdunkel hielt.// 156 //
Von Zeit zu Zeit im Vorwärtsdringen einen Augenblick
innehaltend und mich vorsichtig erhebend, warf ich einen forschenden Blick
über den Damm hinaus und gewahrte jetzt auf der seitwärts liegenden
Erhöhung eine Gestalt, welche sich leicht kenntlich am Horizonte
abzeichnete. Man hatte also jetzt eine Wache ausgestellt, und wenn der
Mann sein Augenmerk nicht blos in die Ferne auf den von ihm erwarteten
Bahnzug sondern auch auf die nähere Umgebung richtete, so mußte er
unbedingt die Abtheilung von uns, welche sich auf der andern Seite des
Schienenstranges fortbewegte, bemerken. Doch vertraute ich der Klugheit
des Apachenhäuptling's, welcher mir schon öfters eine gradezu
erstaunenswerthe Meisterschaft im Beschleichen gezeigt hatte.
Nach wenigen Minuten konnten wir die Uebrigen sehen, welche bewegungslos
am Boden lagen. Eine kurze Strecke hinter ihnen hielten die angekoppelten
Pferde, ein Umstand, der einen plötzlichen Ueberfall sehr erschwerte, da
die Thiere leicht zu Verräthern werden konnten. Zu gleicher Zeit erblickte
ich die Vorrichtung, welche die Indianer getroffen hatten, um den Zug
aufzuhalten. Es waren mehrere Schienen ausgebrochen und mit den
ausgehobenen Schwellen quer über das Gleis gelegt worden, und mit
Schaudern dachte ich an das Schicksal, welches die Insassen der Wagen
hätte treffen müssen, wenn das Vorhaben der Wilden nicht von uns bemerkt
worden wäre.
Wir setzten unsre Bewegung so lange fort, bis wir uns der Truppe grad
gegenüber befanden und blieben nun, die Waffen zum sofortigen Gebrauche
bereit haltend, erwartungsvoll liegen.
Besser wäre es gewesen, den Angriff von unserer Seite aus zu übernehmen;
aber die Disposition war nun einmal getroffen und so mußten wir uns
gedulden. Die Hauptaufgabe unserer Verbündeten war, zunächst den Posten
unschädlich zu machen, ein Vornehmen, welches ich kaum einem Andern als
Winnetou zutraute. Der Mann konnte im hellen Mondenschein die geringste
Kleinigkeit seiner Umgebung genau erkennen und mußte bei der ringsum
herrschenden Ruhe das leiseste Geräusch bemerken. Und selbst wenn es
gelang, ihn zu überraschen, so war es doch, um ihn durch einen
gutgeführten Messerstich unschädlich zu machen, nothwendig, aufzuspringen,
und dann mußte man ja sofort von den Andern gesehen werden.
Mit mir zu Rathe gehend, wie diesem Uebelstande abzuhelfen sei, sah ich
ihn plötzlich wie in den Boden hinein verschwinden, im nächsten
Augenblicke aber schon wieder in seiner früheren geraden Haltung aufrecht
stehen. Nur einen einzigen, blitzesschnellen Moment hatte diese Bewegung
in Anspruch genommen; aber ich wußte sogleich, was sie zu bedeuten hatte.
Der jetzt scheinbar Wache Haltende war nicht mehr der Ogellalla, sondern
Winnetou. Er mußte sich mit noch Einem bis unmittelbar an den Posten
geschlichen haben und war in demselben Augenblicke, an welchem Letzterer
von dem Anderen bei den Füßen niedergerissen und sofort eines Lautes
unfähig gemacht wurde, kerzengrad in die Höhe gefahren.
Das war wieder eins seiner bewundernswerthen Indianerstücke, bei welchem
ihm sicher nur Old Firehand geholfen haben konnte. Niemand weiter von uns
hatte den Vorgang bemerkt, und da die Feinde in ihrer Unbeweglichkeit
verharrten, so mußte er auch ihnen entgangen sein. Das Schwerste war somit
glücklich vollbracht, und nun konnten wir in kürzester Zeit den Angriff
erwarten.
Wirklich gewahrte ich auch nur kurze Zeit später eine Reihe dunkler
Punkte, welche sich in einiger Entfernung hinter den Pferden immer weiter
vorschob und das Bestreben zeigte, sich zu einem Halbkreise zu verengen.
Ungesehen von den Indianern rückte sie näher und immer näher, und schon
schien mir die vollständige Ueberrumpelung des Feindes sicher, da - zuckte
ein flüchtiges Leuchten drüben auf, welchem ein lauter Knall folgte - es
war irgend Einem das Gewehr losgegangen.
Sofort standen die Ogellalla's auf den Füßen, und kaum hatten sie die
rasch heranstürmenden Gegner bemerkt, so saßen sie mit Gedankenschnelle im
Sattel, warfen die Pferde herum und stürmten im Galopp auf den Bahndamm
zu.
Sie waren eines Ueberfalles nicht gewärtig gewesen und hatten also auch
für den Fall eines solchen keine Verhaltungsmaßregeln besprochen. Deßhalb
suchten sie, da sie die Ueberzahl der Weißen erkannten, zunächst aus der
Nähe derselben zu kommen, um dann in einer sicheren Stellung einen
Entschluß zu fassen. Daß auf der andern Seite des Dammes ein Hinterhalt
liege, konnten sie nicht wissen, und es kam nun darauf an, ihre Flucht
aufzuhalten.
»Have care (Achtung)!« rief ich, als sie nur noch einige
Pferdelängen von uns entfernt waren. »Zielt auf die Pferde und dann
drauf!«
Ich hatte einen Henrystutzen mit fünf und zwanzig Kugeln im Kolben, gegen
Reiter eine fürchterliche Waffe, die ich auch nach Kräften gebrauchte.
Schon bei unsrer ersten Salve bildeten die Indsmen einen Kneuel, auf
welchen sich die Andern alle stürzten, während ich einstweilen meinen
Standpunkt beibehielt, um Kugel auf Kugel aus dem sichern Laufe zu
entsenden.
Der Kampf wüthete mit tödtlicher Erbitterung. Zwar war es einer kleinen
Anzahl gelungen, unsre Linie zu durchbrechen und das Weite zu gewinnen;
aber die bei Weitem Meisten waren entweder von ihren verwundeten Pferden
abgeworfen oder von unsrer Uebermacht am Ausbrechen verhindert worden, und
wenn sie auch wie die Teufel kämpften, so war es doch augenscheinlich, daß
sie dem Untergange gewidmet waren.
Die ursprüngliche Verwirrung des Handgemenges lößte allmälig sich in einen
besser zu übersehenden Einzelkampf auf, welcher einem nicht betheiligten
Zuschauer Gelegenheit gegeben hätte, Thaten zu beobachten, für welche der
civilisirte Boden kaum einen Platz haben dürfte. Die Schaar der
Bahnarbeiter bestand begreiflicher Weise zwar meist aus Leuten, welche in
den Stürmen des Lebens ihre Kräfte geübt hatten; aber der Kampfart der
Indianer war wohl Keiner von ihnen gewachsen, und wo nicht Mehrere von
ihnen gegen einen Indsman standen, behielt dieser gewiß die Oberhand, und
die Stätte bedeckte sich immer mehr mit den unter dem wuchtigen Hiebe des
Tomahawk Gefallenen.
Nur Drei von uns, Old Firehand, Winnetou und ich waren mit dieser Waffe
versehen, und es zeigte sich allerdings, daß bei gleichen Waffen der
intelligentere Europäer meist im Vortheile steht. Ich hatte das Gewehr
längst aus der Hand gelegt und mich am Handgemenge betheiligt. Je geringer
die Zahl der Feinde wurde, desto mehr glaubten die Arbeiter, ihre Pflicht
gethan zu haben und traten beiseite, um sich zu erholen; um so mehr aber
waren wir Andern engagirt und hatten wirklich vollauf zu thun, um den Rest
der Feinde zu bemeistern.
// 157 //
Winnetou kannte ich genugsam und ließ ihn also unbeachtet;
mit Gewalt dagegen drängte es mich in die Nähe von Old Firehand, dessen
Anblick mich an jene alten Recken mahnte, von denen ich als Knabe so oft
und mit Begeisterung gelesen. Mit auseinander gespreizten Beinen stand er
grad und aufrecht da und ließ sich von den Andern die Indianer in das
Schlachtbeil treiben, welches, von seiner riesenstarken Faust geführt, bei
jedem Schlage zerschmetternd auf die Köpfe der Feinde sank. Die langen,
weißen, mähnenartigen Haare wehten ihm um's entblößte Haupt und in seinem
vom Monde hell beschienenen Angesichte sprach sich ein Gefühl der Wonne
aus, welche den Zügen einen gradezu befremdenden Ausdruck gab.
Seitwärts von ihm und mir kämpfte ein Indianer, welcher seinen Gegnern
sehr zu schaffen machte, so daß es ihm endlich doch gelang, sich einen Weg
zu bahnen, um dem Schicksale der Uebrigen zu entgehen. Eben stieß er den
letzten im Wege Stehenden weit ab von sich und wollte das Weite suchen,
als sich ihm ganz unerwartet ein neuer Feind entgegenstellte. Es war
Winnetou, der bei dem Anblicke des Wilden sofort herbeigesprungen kam,
noch ehe ich die gleiche Absicht ausgeführt hatte.
»Parranoh!« rief er, der sonst nach Indianersitte während des Kampfes den
Mund nicht öffnete. »Will der Hund von Athabaskah laufen vor Winnetou, dem
Häuptling der Apachen? Der Mund der Erde soll sein Blut trinken und die
Kralle des Geiers soll zerreißen den Leib des Verräthers; aber sein Scalp
wird zieren den Gürtel des Apachen!«
Er warf den Tomahawk weit von sich, riß das Messer aus dem mit Kopfhäuten
geschmückten Gürtel und packte den weißen Häuptling bei der Kehle. Aber er
wurde von dem tödtlichen Stiche abgehalten.
Als er gegen seine sonstige Gewohnheit sich mit so lautem Rufe auf den
Ogellalla stürzte, hatte Old Firehand einen raschen Blick herüber
geworfen, welcher das Gesicht des Feindes streifte. Trotz der Flüchtigkeit
dieses Blickes aber hatte er doch ein Gesicht gesehen, welches er haßte
mit der tiefsten Faser seines Innern, welches er lange, lange Jahre mit
fürchterlicher Anstrengung, aber vergebens gesucht, und das ihm nun so
unerwartet an diesem Orte vor die Augen kam.
»Tim Finnetey,« schrie er, schlug mit den Armen die Indianer wie Grashalme
auseinander und sprang mitten durch sie hindurch auf Winnetou zu, dessen
soeben zum Stoße erhobene Hand er packte. »Halt, Bruder, dieser Mann
gehört mir!«
Vor Schrecken starr stand Parranoh, als er seinen eigentlichen Namen rufen
hörte; kaum aber hatte er einen Blick in das Angesicht Old Firehand's
geworfen, so riß er sich von der Hand Winnetou's, der seine Aufmerksamkeit
getheilt hatte, los und stürmte wie von der Sehne geschnellt von dannen.
Im Augenblicke machte auch ich mich von dem Indianer, mit welchem ich
während dieser Scene im Kampfe stand, los und setzte dem Fliehenden nach.
Zwar hatte ich für meine Person keinerlei Abrechnung mit ihm zu halten,
aber selbst wenn er auch nicht als der eigentliche Urheber des
beabsichtigten Ueberfalles Anrecht auf eine Kugel gehabt hätte, so wußte
ich doch, daß er ein Todfeind Winnetou's sei und ebenso hatten mich die
letzten Augenblicke belehrt, daß Old Firehand an der Habhaftwerdung seiner
Person gelegen sein müsse.
Beide hatten sich ebenfalls augenblicklich zur Verfolgung in Bewegung
gesetzt; aber ich wußte, daß sie den Vorsprung, welchen ich vor ihnen
hatte, nicht verringern würden und mußte freilich auch zu gleicher Zeit
bemerken, daß ich es mit einem außerordentlich guten Läufer zu thun hatte.
Obgleich Old Firehand nach Dem, was ich von ihm gehört hatte, ein Meister
in allen Fertigkeiten, welche das Leben im Westen verlangt, sein mußte, so
befand er sich doch schon längst nicht mehr in den Jahren, welche einen
Wettlauf auf Tod und Leben begünstigen, und Winnetou hatte mir schon
öfters eingestanden, daß er mich nicht einzuholen vermöge.
Zu meiner Genugthuung bemerkte ich, daß Parranoh den Fehler beging, ohne
seine Kräfte gehörig abzumessen, Hals über Kopf immer gradaus zu rennen
und in seiner Bestürzung die gewöhnliche Taktik der Indianer, im Zickzack
zu fliehen, nicht befolgte, während ich den Odem zu sparen suchte und in
vollständiger Berechnung meiner Kräfte und der möglichen Ausdauer die
Anstrengung des Laufes abwechselnd von einem Beine auf das andere legte,
eine Vorsicht, welche mir stets von Vortheil gewesen war.
Die beiden Andern blieben immer weiter zurück, so daß ich das Geräusch
ihres Athems, welches ich erst dicht hinter mir gehört hatte, nicht mehr
vernahm, und jetzt erscholl auch aus schon ziemlicher Entfernung die
Stimme Winnetou's:
»Old Firehand mag stehen bleiben! Mein junger, weißer Bruder wird die
Kröte von Athabaskah fangen und tödten. Er hat die Füße des Sturmes, und
Niemand vermag, ihm zu entkommen.«
So schmeichelhaft dieser Ruf für mich klang, ich konnte mich doch nicht
umsehen, um zu gewahren, ob der grimme Jäger ihm auch Folge leiste. Zwar
schien der Mond, aber bei der Trüglichkeit seines Schimmers mußte ich den
Flüchtling immer fest im Auge behalten.
Bisher war ich ihm noch um keinen Schritt näher gerückt; aber als ich
jetzt bemerkte, daß seine Geschwindigkeit im Abnehmen begriffen sei, holte
ich weiter aus, und in kurzer Zeit flog ich so nahe hinter ihm her, daß
ich sein keuchendes Schnaufen vernahm. Ich hatte keine andere Waffe bei
mir, als die beiden abgeschossenen Revolver und das Bowiemesser, welches
ich jetzt zog. Das Beil hätte mich am Laufe gehindert und war deßhalb
schon nach den ersten Schritten von mir weggeworfen worden.
Da plötzlich sprang er zur Seite, um mich im vollen Jagen an sich
vorüberschießen zu lassen und dann von hinten an mich zu kommen; aber ich
war natürlich auf dieses Manöver gefaßt und bog in eben demselben Momente
seitwärts, sodaß wir mit voller Gewalt zusammenprallten und ihm dabei mein
Messer bis an den Griff in den Leib fuhr. -
Der Zusammenstoß war so kräftig, daß wir beide zur Erde stürzten, von
welcher er sich allerdings nicht wieder erhob, während ich mich
augenblicklich zusammenraffte, da ich nicht wissen konnte, ob er tödtlich
getroffen sei. Aber er bewegte kein Glied, und tief Athem holend, zog ich
das Messer zurück.
Ende des vierten Teils – Fortsetzung folgt.