Nummer 22 Schacht und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.

Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden, Jagdweg 14.

Geographische Predigten.

von Karl May.
29. Januar 1876


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4.
Wald und Feld


»Du lässest Gras wachsen für das Vieh und
Saat zu Nutz dem Menschen, daß Du Brod
aus der Erde bringest und die Bäume des Herrn
voll Saftes stehen, die Cedern Libanons, die er
gepflanzet hat.«                                       David.


Wald und Feld - zwei Worte von unendlicher Bedeutung nicht nur für den Einzelnen, sondern ebenso sehr für die große Gesammtheit der menschlichen Gesellschaft. Mit ihnen treten wir ein in das Reich der organischen Wesen, der mit leichterkennbarem Leben begabten Creaturen, und sehen eine Menge der liebsten und freundlichsten Vorstellungen in uns aufsteigen.

Waldesduft und Maienluft, Hörnerklang und Vogelsang und all' jene oft gebrauchten Reime von Flur und Natur, Zelt und Feld, Schall und Nachtigall, Sonne und Wonne klingen uns um das lauschende Ohr; der ernste, religiöse Sinn sieht Christus unter Aehren wandeln, gedenkt seiner Bilder vom Senfkorne, vom Feigenbaume, vom Weinstocke und der Lilien auf dem Felde, welche besser bekleidet sind als Salomo in aller seiner Herrlichkeit, und der erwägende Verstand erblickt in den wogenden Fluren und rauschenden Wäldern eine unerschöpfliche Quelle national-wirthschaftlichen Reichthums.

Wenn früher gesagt wurde, daß selbst im scheinbar todten Steine der Puls der großen, allgemeinen Bewegung klopfe, so war dieser Puls nur der zarten Empfindung des aufmerksamen Beobachters erkenntlich, während dagegen das organische Leben den wahrnehmenden Sinneswerkzeugen vollständig ungesucht entgegentritt.

Was aber ist denn eigentlich das, was wir »Leben« nennen?

Wer vermöchte es wohl, diese Frage zu beantworten! Nur Einer hat es gethan: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben,« und dieser Eine wird von Tausenden verspottet und von Millionen vergöttert, weil die Einen ihn gar nicht und die Anderen ihn nur halb verstanden.

Die irdische Natur hat nur eine gewisse und beschränkte Anzahl von Grundstoffen oder Elementen aufzuweisen, aus welchen sich alles Bestehende zusammensetzt. Diese Zusammensetzung ist eine unendlich verschiedene und sich immerwährend verändernde, wie die Lehre vom Stoffwechsel deutlich und unwiderlegbar beweist, und geschieht durch nichts Anderes als diejenige Kraft, welche wir »Leben« nennen.

Nicht jedes andere Wesen besteht auch aus anderen Stoffen, sondern die Verschiedenheit der Zusammensetzung dieser Stoffe ist es, welche die Verschiedenheit der Formen und Gestalten und unzählige Wunder bewirkt, welchen wir gewöhnlich nicht die geringste Beachtung schenken.

Auf dem gleichen Boden und unter vollständig denselben Verhältnissen wächst die Kiefer, die Eiche, die Rebe, das Getreide, der Schierling; sie nähren sich von denselben Bodenstoffen, athmen in derselben Luft, trinken denselben Thau und wärmen sich in demselben Strahle, und doch bringt das in ihnen waltende Leben im Holze und Harze der Kiefer, in der bitteren Gerbrinde der Eiche, im süßen, berauschenden Safte der Traube, im nährenden Mehle des Roggens, in den heilsamen Eigenschaften der Kräuter und der tödtlichen Wirkung des Giftstrauches so außerordentlich verschiedenartige Erscheinungen hervor. Die Wurzel des Schierlings zeigt dieselben Bestandtheile wie diejenige des Sellerie, und der Kuhbaum, welchem die süßeste und nahrhafteste Pflanzenmilch entfließt, besitzt chemisch ganz dieselben Stoffe, aus welchen der Upasbaum seinen furchtbaren Saft bereitet, in welchen die Malayen die Spitzen ihrer Pfeile tauchen.

Die Zauberkraft, welche aus Einem und Demselben so Verschiedenes, ja Entgegengesetztes bereitet, liegt schon im Keime des Samenkornes verborgen und beginnt ihre Thätigkeit gleich mit dem ersten Augenblicke der Entwickelung desselben. Wie groß diese Kraft ist, sehen wir nicht nur an der Vergleichung des vollständig ausgewachsenen Baumes mit dem kleinen, unscheinbaren Samen, sondern auch schon an der mechanischen Gewalt, welche sie vom frühesten Stadium ihrer Wirksamkeit ausübt. Wenn man z.B. Erbsen durch Anfeuchtung zum Keimen lockt und sie mit einem Gewichte von 150 Pfund beschwert, so wird dieses Gewicht durch das Schwellen des Keimes bewegt und der Keim dringt trotz der verhältnißmäßig ungeheuren Belastung hervor.

Woher diese erstaunliche Stärke, welche einem Keime innewohnt, den der Finger eines Kindes spielend zu zerstören vermag? Liegt hier nicht ein ebenso deutlicher Fingerzeig auf das Walten eines göttlichen Wesens, wie in den staunenerweckenden Wundern des unermeßlichen Weltenraumes?

Fast möchte man behaupten, daß sich in dem Leben des Samenkornes etwas Seelenartiges offenbare, und einem unserer bekanntesten Naturforscher beipflichten, welcher sagt: »Der kleine Keim dringt wie gerufen und zur rechten Stunde hervor und senkt seine Spitze in den Erdboden, um Nahrung zu suchen. Er treibt aus dieser Spitze kleine Fasern hervor, die zur Wurzel werden. Woher weiß er, daß er Nahrung im Boden findet und wo das Erdreich sei, das er doch nicht siehet? Und doch, wenn die eine seiner Spitzen, welche zur Wurzel bestimmt ist, aufrecht über der Erde stehet, krümmt sie sich so lange abwärts, bis sie Erde gefunden hat, während die andere Spitze, die zum Stengel werden soll, sich jedesmal von der Erde wegwendet und aufwärts steigt, um Luft und Licht zu suchen. Ist hier nicht Seelenartiges? Ist hier nicht eine verborgene, wunderbare Kraft, die ebenso unerklärlich ist wie diejenige, welche in ewig gleichen Bahnen die Sternenwelten schwebend durch die Himmelsräume führt?«

Und dieses Leben, welches im Samenkorne schläft, hat,

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einmal erwacht, oft eine Dauer, welche nach Jahrtausenden gemessen werden muß. Der Affenbrodbaum, welcher bei einem Umfange von 80 bis 100 Fuß, 50 bis 70 Fuß lange Zweige treibt, ist in Exemplaren gefunden worden, deren Alter auf über sechstausend Jahre anzugeben war. Die wenigen Cedern, welche der Libanon noch trägt, werden auf 1800 Jahre geschätzt; in Körtlinghausen (Westphalen) steht eine 1000-jährige, in Saintes (Frankreich) gar eine 2000-jährige Eiche, bei Freiburg eine 1600-jährige Linde, am Dome zu Hildesheim ein Rosenstock, welcher urkundlich über 800 Jahre alt ist, bei Courmayeur eine 1200-jährige Tanne.

Diese ungeheure Lebensdauer entspricht dem Zwecke, welcher die Pflanzen in das Dasein gerufen hat. Sie stehen mit dem allgemeinen Erdenleben in innigem Zusammenhange und bilden eine lebendige Decke, eine Ueberkleidung des nackten Erdbodens grad' so, wie der Haar- oder Federüberzug über den thierischen Körper. Sie bilden einen höchst unentbehrlichen Factor in dem großen organisch-chemischen Kreislauf der Stoffe, vermitteln den Uebergang aus niederen in höhere Lebensformen und dienen nicht nur den letzteren zur Nahrung, sondern liefern dem Handel und der Industrie die vielfältigsten Gaben.

Die Pflanzendecke der Erde nimmt einen weit größeren Theil der Oberfläche derselben ein, als man gewöhnlich meint. Sowie eine kahle Stelle des Erdbodens mit den wässerigen Dünsten der Atmosphäre in Berührung und unter die Einwirkung von Licht und Wärme kommt, entstehen zunächst Pflanzengebilde niederer Ordnung, welche im Boden nach und nach zum Tragen höherer Gattungen vorbereiten. An den schroffsten Felsenwänden, unter dem ewigen Eise des Nordpoles, in der heißen Wüste, überall begegnen wir Pflanzenformen, welche den Einwirkungen einer feindseligen Natur zu trotzen vermögen, und selbst im Meere breitet sich eine Vegetation aus, deren Riesenhaftigkeit wahrhaft bewundernswürdig ist. Wir dürfen hierbei nur an das »Sargassomeer« denken, dessen grüne Grasdecke sich westlich von den Azoren über einen Raum von 26 Breitengraden ausdehnt.

Der Pflanzenüberzug der Erde hat einen nicht unbedeutenden Einfluß auf das Klima der Erde, und es ist eine allgemeine Erfahrung, daß dieses Klima desto milder wird, je mehr sich die Vegetation entwickelt und verbreitet. Ganz besonders aber sind es die Wälder, von denen die physikalischen Erscheinungen der Oberfläche unseres Planeten abhängig sind. -

Sie saugen die Feuchtigkeit aus der Luft und übermitteln sie dem Boden, in welchem sie Wurzeln schlagen, sammeln den Regen, dessen Nässe sie hinunter in die Tiefe leiten, aus welcher sie als Quelle wieder an das Licht des Tages tritt, und geben die aufbewahrte Feuchtigkeit an die Atmosphäre ab, sobald dieselbe ihrer bedarf.

So bilden die Wälder die eigentlichen Regulatoren der atmosphärischen Niederschläge und müssen deshalb als unentbehrlich angesehen werden. Gegenden, welche man ihrer Holzungen beraubte, haben unter den schweren Folgen einer solchen wirthschaftlichen Sünde zu leiden, indem es bei ihnen keine Vermittelung zwischen den Extremen von Dürre und Nässe giebt und sie also bald mit der ersteren und bald mit der letzteren zu kämpfen haben.

Von ebenso großer Wichtigkeit ist die Athmung der Pflanzen, welche ihre meiste Nahrung aus der Luft ziehen, indem sie aus der Kohlensäure und Feuchtigkeit derselben den Kohlen- und Wasserstoff in sich aufnehmen und den Sauerstoff ausscheiden, während der thierische Organismus, also auch der Mensch, den Sauerstoff einathmet. Es besteht also zwischen Thier und Pflanze ein gegenseitiger und endloser Austausch der unentbehrlichen Athmungsmittel, ohne welchen der Mensch nicht zu leben vermöchte.

Diesen Segen bringt die lebende Pflanze; doch nicht minder groß ist ihr Nutzen nach ihrem Tode. Die abgestorbenen Theile fallen zur Erde, wo sie langsam verwesen und von Jahr zu Jahr eine neue Schicht fruchtbaren Humuslandes bilden. Kann diese Schichtbildung ungestört vor sich gehen, so entstehen mit der Zeit Ablagerungen von solcher Mächtigkeit, daß, wie in den Bottoms des nordamerikanischen Westens, der Ackerbauer ohne Dung und Mühe mehrere Jahrzehnte lang die reichsten Ernten erbaut.

Unter günstigen Verhältnissen, besonders bei reichlich vorhandener Feuchtigkeit, entsteht durch eigenthümliche Wurzelbildung und Ablagerung der verwesten Pflanzen der Torf, dann das Moor, von welchem die Braunkohle zu den Steinkohlen den Uebergang bildet. Hier stoßen wir auf fast unerschöpfliche Reichthümer, welche eine um viele Jahrtausende zurückliegende Vegetation für das erst später entstehende Geschlecht der Menschen in den Schatzkammern der Erde aufgespeichert hat.

Es fällt auf den ersten Blick in die Augen, daß der Nutzen der Pflanzen zur Gesellschaftlichkeit derselben in gleichem Verhältnisse steht und daß auch hier der weise Wille des Schöpfers Großes durch das Kleine hervorbringt. Nicht die Eiche, nicht der riesige Mammuthbaum ist es, welcher die Millionen der lebenden Menschen ernährt, sondern die Arten der Gräser, welche wir Getreidepflanzen nennen, liefern uns die Stoffe, deren wir bedürfen, um des Leibes Nahrung und Nothdurft zu stillen. Dies kann freilich nur durch die massenhafte Vereinigung der einzelnen Pflanzen zu wogenden Feldern erzielt werden, und hier hat die Cultur ihren ersten siegreichen Schritt zu thun.

Wo die Natur durch die Früchte nur eines Baumes dem Menschen den jährlichen Bedarf seiner Nahrung bietet, hat die Gesittung sich noch keine Stätte erobert, und nur da, wo die Hand des Menschen bestimmend und wählend eingreift in das Reich der Schöpfung und im Schweiße seines Angesichtes seinen Willen zur Geltung bringt, blüht die Bildung mit allen ihren wohlthätigen Folgen.

Daß der Mensch in gewisser Beziehung von dem Boden abhängig ist, auf welchem er lebt, wissen wir; in Folge dessen ist es ihm wohl auch nicht möglich, sich dem Einflusse derjenigen Producte zu entziehen, welche dieser Boden hervorbringt, und in Wirklichkeit beobachten wir je nach der Verschiedenheit der Landeserzeugnisse auch eine Verschiedenheit der Völker.

Der Eskimo trinkt seinen Thran; der Indianer kaut sein Büffelfleisch und verschlingt dazu seine eklen Kammaskuchen; der Amerikaner liebt den Mais, der Engländer den Waizen, der Deutsche den Roggen, ein Anderer das Haidekorn; der Indier lebt vom Reis, der Afrikaner von seiner Durrha (Negerhirse), und es läßt sich gar nicht läugnen, daß die Beschaffenheit des Hauptnahrungsmittels nicht ohne Wirkung auf die körperliche und geistige Constitution der angeführten Völkerschaften sein kann.


Ende des achten Teils – Fortsetzung folgt.



Karl May: Geographische Predigten

Karl May – Leben und Werk