Nummer 21 Schacht und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.

Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden, Jagdweg 14.

Geographische Predigten.

von Karl May.
22. Januar 1876


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3.
Berg und Thal.
(Schluß.)

Wäre unser Planet eine vollständig abgeglättete Kugel, so würde die Luftbewegung, welche ihre Umdrehung verursacht, als ungebrochener, wilder und ewiger Orkan über Land und Wasser sausen und jeden Keim vegetabilischer und animalischer Entwickelung schon im ersten Stadium seiner Entfaltung tödten und nur in den düsteren Tiefen der See, in welche der Sturm nicht zu dringen vermag, wäre ein Leben denkbar.

Die Unebenheit des Bodens ist die erste Grundbedingung zur Entstehung von Quellen, Bächen, Flüssen und Strömen, überhaupt jeder Art von Wasserlauf. Welchen Segen aber die Wanderschaft des feuchten Elementes von dem Gipfel des Gebirges herab bis hinunter in das gewaltige Becken des Oceans nach sich bringt, werden wir später ausführlich erörtern. Auf ihn müßte die Erde verzichten und würde aller Daseinsformen entbehren, deren Bestehen von ihm abhängig gemacht ist.

Wohl kaum ist es schon mit genugsamem Nachdrucke hervorgehoben worden, welchen Factor die Gebirge in Beziehung auf die Wärmeverbreitung bilden, indem sie bei der außerordentlichen Geschwindigkeit der Axendrehung der Erde wie die Radschaufeln eines Dampfers in die den Aequator umlagernde Hitze schlagen und diese Letztere nach den Polen hin in Bewegung setzen.

Mit derselben kräftigen Stetigkeit greifen sie in die Richtung der von Osten nach Westen gehenden Luftströmung ein und ermöglichen so die segensreiche Mannigfaltigkeit der atmosphärischen Bewegungen.

Und wie in Beziehung auf die Reiche der Natur, so ist die Bodengestaltung auch von weitgehendem Einflusse auf die Entwickelung des Menschen und seines Geschlechtes.

Wie die Berge den Thau des Aethers trinken, um ihn in sich immer mehr vergrößernden Rinnen der Tiefe zuzuführen, so sind die Völker der Erde von den Höhen der Gebirge herabgestiegen, und die glanzvollsten Erscheinungen und Thatsachen der Geschichte haben ihre Heimath nicht unten im Thale, sondern dort gefunden, wohin der Blick des Dichters sich richtet:

»Sieh', mein Aug', nach Zions Bergen,
     Ach, sieh' unverwandt hinauf;
Denn von den geliebten Bergen
     Geht mein Heil mir auf!«

Die Wiege des Menschengeschlechtes, an welche der fromme Glaube die Gestaltungen eines Paradieses knüpft, lag dem Himmel um Vieles näher als die Fluth des Meeres, und durch die Pforten zu den hinterasiatischen Höhenländern ergoß sich das Volk der Menschenkinder hernieder auf die Ebenen, um am Thurme zu Babel zur Erkenntniß ihrer Aufgabe: »Füllet die Erde und machet sie Euch unterthan« zu gelangen.

Der Berg Ararat war es, auf welchem Noah als Alleinbegnadigter festen Fuß faßte, nachdem die Fenster des Himmels und die Schleußen der Erde sich geschlossen hatten; auf dem Berge Sinai offenbarte Jehova Sabaoth seinen heiligen Willen; eine Höhle des Gebirges Pisga bildet das geheimnißvolle Grab Mosis, des größten Lenkers Israels; ebendaselbst, auf dem Berge Horeb ging der Herr in einem sanften Säuseln vor Elias, dem Propheten, vorüber; auf Morijah stand der berühmteste der Gottestempel; in Galiläa, dem Gebirgslande, wurde Christus geboren; die erste seiner Predigten erscholl von einem Berge; auf einem Berge wurde er verklärt; auf einem Berge schlug man ihn an das Kreuz, und von einem Berge ward er aufgehoben »zusehends« in die Wolken, wie die Apostelgeschichte erzählt.

Nicht blos die biblische Anbetungsform ist es, welche die wichtigsten und besten ihrer Erzählungen, Legenden und Prophezeihungen an die Namen von Bergen knüpft, sondern die heiligen Sagen jeder anderen Religion thun dasselbe, und ebenso wie die Anschauungen der heiligen Schrift, knüpfen sie an das Wort »Thal« die Vorstellung des Gegentheiles von Glück und Seligkeit.

Es ist eine längst bewiesene Wahrheit, daß der Mensch nach der Entwickelung seines äußern und innern Wesens abhängig ist von dem Boden, auf welchem er lebt und mit dem er um die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu ringen hat. Daraus folgt nothwendig eine körperliche und geistige Verschiedenheit zwischen dem Gebirgs- und dem Tiefländer.

Kühn, wie die Zacken seiner Felsen, rasch und beweglich, wie die Wasser seiner Fälle, Sturz- und Gießbäche, leicht erregbar wie die Lawine und der Sturm, der um die Firnen braust, gleicht der gewandte, heitere, lebenslustige und leidenschaftliche Bergbewohner mit seinen scharfgeschnittenen Zügen, hochgeschwungenen Brauen und sehnenkräftigen, schlanken Gliedmaßen ganz dem Landschaftsbilde, dessen Staffage er zu besorgen hat.

Langsam dagegen, wie der Lauf seiner Gewässer, nachhaltig, wie seine Wetter, treu und wechsellos wie der Character seines Heimathslandes, zeigt sich der bedächtige, sichergehende, leidenschaftslose und ruhig erwägende Bewohner des Flachgebietes mit seinen breitgezeichneten Gesichtszügen und fleischigen, robusten Körperformen.

Und wie der einzelne Mann, so auch das ganze Volk nach seiner Art, seinem Character und seiner Geschichte. Alle jene großen, weltgeschichtlichen Aufgaben, deren Lösung ein rasches, begeistertes, alle Hindernisse überschäumendes Handeln bedurfte, wurden von dem weisen Geschicke in die Hände von Völkern gelegt, welche, zwischen himmelanstrebenden Bergen geboren, sich kataraktähnlich von ihren Höhen herabstürzten, um durch diese Bewegung den Erdkreis mit der Macht einer lebensvollen Idee zu überfluthen. Und galt es einem Gedanken, dessen Ausführung einer steten, durch Jahrhunderte gehenden und unverrückten Entwickelung be-

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durfte, so wurde seine Lösung in das Wappen derjenigen Völker gegraben, welche in Folge der physikalischen Beschaffenheit ihres heimischen Bodens die dazu nöthige aushaltende Kraft besaßen.

Treffend, wenn auch nicht gerade geistreich, wird dieser Unterschied zwischen den Bewohnern des Gebirges und Flachlandes durch das mongolische Sprüchwort

»Hue man tschan, ku man tschueng,«
(Ochsen im Osten, Pferde im Westen)

bezeichnet, welches den Völkerschaften des tieferliegenden Ostens die Eigenschaften des bekannten starknackigen und mit nachhaltiger Kraft begabten Zugthieres beilegt, die des höherliegenden Westens aber mit dem feurigen, muthigen Rosse vergleicht, dessen edle Natur sich auch am besten zu edlen Diensten eignet.

Wie der wilde und verderbliche Schneesturm, welcher über die Hochländer zwischen Altai und Himalaya wüthet, so haben sich die dort wohnenden Horden zu mehreren Malen hernieder auf die anliegenden Gebiete gestürzt und ihre gewaltigen Wogen bis in die Mitte des fernen Europa gerollt. Mit eisernem Fleiße und nie ermüdender Kraft haben die Bewohner der Nordseeländer dem Meere eine Eroberung nach der anderen abgerungen, und wie der kleine, flinke Asiate unendlich verschieden ist von dem breiten, bedächtigen und langsamen »Neederländer,« so herrscht eine ebensolche Verschiedenheit auch in Beziehung auf ihre geographischen, geschichtlichen und alle übrigen Verhältnisse. Man vergleiche nur die ambulanten Filzzelte des Ersteren und die mit riesigen Kosten und auf ungeheuren Pfahlrosten erbauten Wohnungen des Letzteren, oder das leichte, kleinhufige und schwachknochige Roß des Erstgenannten und die großen, starkknochigen und breithufigen brabanter und flandrischen Pferde, welche die ungeheuersten Lasten ziehen und seiner Zeit die Kanonen Napoleons I. von einem Schlachtfelde zum anderen schleppten.

Der Einfluß der Gebirge auf die Psychologie der Völker ist ein so bedeutender, daß er Jedermann bald in die Augen fallen muß. Während die Ebenen, sobald sie nicht zu verderbendrohenden Wüsten werden, eine gegenseitige Berührung ungemein erleichtern und das Meer geradezu »länderverbindend« genannt wird, setzen die Gebirgszüge dieser Berührung um so bedeutendere Hindernisse entgegen, je höher und schwieriger zu übersteigen sie sind. Deshalb ziehen sich die Berge oft wie eine Mauer zwischen die einzelnen Völkerschaften hindurch, deren gegenseitiger Verkehr von der Zahl und Passirbarkeit der über das Gebirge führenden Pässe abhängig ist.

Als Beispiel seien nur angeführt die Alpen, welche zwischen Germanen und Romanen eine trennende Scheidewand bilden, und das Erzgebirge, an dessen Nordseite die protestantischen Sachsen und an dessen südlichem Abhange die katholischen Böhmen wohnen. Sind geringe Bestandtheile der einen oder anderen Art herüber oder hinüber gekommen, so geschah es eben nur auf dem einzigen Wege, welchen die Pässe bieten. Freilich hat in neuerer Zeit die Alles nivellirende Eisenbahn auch hier große Veränderungen hervorgebracht. Gebirgsübergänge durch zahlreiche Truppenkörper, wie sie z.B. Hannibal, die Cimbern und Teutonen, der Inca Yupanqui und Napoleon unternahmen, gehören schon seit längerer Zeit nicht mehr zu den kühnsten Wagestücken, von denen die Welt mit bewundernder Anerkennung spricht; denn das Dampfroß, welches fast jede Höhe überwindet, sich durch die Berge bohrt und über Schluchten und Abgründe dahinstürmt, trägt auf seinem ehernen Nacken den Sieg über die zum Himmel ragenden Giganten, denen sich der schwache Menschensohn Jahrtausende hindurch nur mit ängstlicher Vorsicht nahen durfte.

Die durch die Macht des Dampfes bedrohte Bedeutung der Gebirge in kriegerischer Beziehung hat sich von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart herein bewährt. Sie bilden Befestigungen, welche dem Feinde entgegenstarren und dem stärksten Geschosse Trotz zu bieten vermögen. Die Heere, welche sich unter tausenderlei Beschwerden und Gefahren langsam und schlangengleich durch die engen Thäler und Schluchten zu winden haben, können sich nicht entfalten, müssen Schritt um Schritt mit theuerm Blute erkämpfen und sehen sich einer vielleicht verschwindend kleinen Anzahl von Feinden preisgegeben, welche jede Krümmung des Weges in eine Barricade, jeden Baumstamm in ein Bollwerk, jeden Felsen in ein Fort und jeden Berg in eine Festung verwandeln.

Schon die heilige Schrift erzählt von den Schwierigkeiten, welche den Juden die Unterjochung der Bergvölker Canaans bot; der einzige Engpaß der Thermopylen genügte den wenigen Spartanern, das ungeheure Heer der Perser aufzuhalten; die größten Feldherren des Alterthumes haben es nicht vermocht, Bergvölker vollständig und auf die Dauer zu besiegen, welche ihnen eine verhältnißmäßig nur geringe Kopfzahl entgegenstellen konnten; Hunderte von Jahren hat das mächtige Rußland resultatlos vor den Bergen des Kaukasus gestanden; die mächtigsten Fürsten Oesterreichs vermochten Nichts gegen die urkräftigen Söhne des Schweizerlandes; die Männer von Tyrol durften es wagen, ihre Stutzen gegen die Schaaren des Franzosenkaisers zu richten, und noch heute trotzt das kleine Montenegro auf die festen Positionen, welche ihm die Natur zur Verfügung gestellt hat.

Daher sind von jeher die Ebenen der Schauplatz berühmter Waffenthaten gewesen, und es giebt Gegenden, welche sich so sehr zu Schlachtfeldern eignen, daß auf ihnen zu verschiedenen Zeiten die entscheidendsten Kämpfe stattgefunden und sie in Folge dessen eine strategische Berühmtheit erlangt haben.

Wie den kriegerischen Bewegungen, so bietet die Ebene auch den friedlichen Evolutionen, den Bemühungen der Industrie, der Gewerbe, des Handels und Verkehrs ein freies und fruchtbringendes Feld.

Der Ackerbau als Grundlage des wirthschaftlichen Wohlstandes findet hier die weiteste und ungehindertste Verbreitung, während die Höhe sich sowohl dem thierischen als auch pflanzlichen Leben desto feindseliger zeigt, je bedeutender sie ist. Auch die Industrie vermag nur bis zu einem gewissen Punkte bergan zu steigen und nimmt ihre Verbreitung am liebsten thalabwärts, dem Laufe der Flüsse entlang. Der Verkehr verwundet sich seine breitschlagenden Schwingen an den engzusammengerückten Felsen der Gebirge und fliegt deshalb gern hinaus in das weite, offene Land, um sich im Sonnenglanz zu wiegen und sein bewegtes Bild in der Fluth des Oceanes zu spiegeln.

Desto lieber aber verweilen die Götter der Unterwelt in den zu Stein erstarrten Felsenwogen der Erdrinde, um da Schätze aufzustapeln, deren Hebung nur dem gelingt, welcher einen Kampf mit den Gewalten der Finsterniß nicht scheut. Da unten herrscht der bärtige König des Gebirges über jene geheimnißvollen Wesen, mit denen die kindliche Phantasie des Menschen die dunklen Gänge des Erdinnern bevölkert hat, weil der denkende Geist keine Erstarrung, keine Ruhe,


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keinen Tod kennt und er in der Ahnung, daß der Puls der großen, unendlichen Bewegung selbst in Felsen klopfe, der Einbildung erlaubt, diesen Felsen mit phantastischem Leben auszustatten.

Klopft der größte der irdischen Geister, der des Menschen, an dieses Reich der Gnomen, so muß es sich seinem Befehle öffnen, und dem dunklen Munde des Schachtes entfließen dann jene Reichthümer, deren Gewinnung die Grundlage aller Arbeit und allen Wohlstandes bildet. So spenden also auch hier, wie in ihren Wasserbächen, die Berge ihre segensreichen Gaben und liefern aus ihren finsteren Tiefen die Grundsteine zu dem Baue menschlicher Bildung und Aufklärung.

Es offenbart sich eben dem denkenden Verstande eine innige Beziehung selbst zwischen den äußerlich feindseligsten Gegensätzen, und wie gerade die alles Leben tödtende Gluth der Wüste von einem allweisen Willen gezwungen wird, empor zu steigen und als Leben spendender Wärmestrom den Frühling nach den Polen zu tragen, so hat alles Das, was dem schwachen Auge als zwecklos oder gar schädlich erscheint, eine Bestimmung zu erfüllen, welche den von unserer Erde getragenen Wesen zum Heile gereicht. Keine Schrift ist so deutlich und correct wie diejenige, mit welcher im Buche der Natur der Beweis vom Dasein eines allmächtigen und allliebenden Gottes geführt wird.


Ende des siebten Teils – Wald und Feld.



Karl May: Geographische Predigten

Karl May – Leben und Werk