Nummer 45 Schacht und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.

Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden, Jagdweg 14.

Geographische Predigten.

von Karl May.
8. Juli 1876


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8.
Haus und Hof.
(Fortsetzung.)

In engster Beziehung zur Kirche hat seit jeher die Schule gestanden.

Wem fällt bei letzterem Worte nicht jener verhängnißvolle Tag ein, an welchem er von der fürsorglichen Mutter unter tröstlichem Zureden in jenes Haus geführt wurde, aus dessen geöffneten Fenstern während der wöchentlichen Singstunden die berühmten Compositionen

»Es tanzt ein Pu - Pa - Putzemann
In unserm Haus herum didum«

oder

»Wer meine Gans gestohlen hat,
Der ist ein Dieb,
Wer mir sie aber wiederbringt,
Den hab ich lieb«

in die Ohren der aufmerksam lauschenden Straßenjugend erschallten? Dem armen Schulbankcandidaten war so »duselig und gruselig« zu Muthe bei den Blicken, welche der Herr »Magister« über die Brillengläser hinweg ihm zuwarf; räthselhafte Gegenstände - riesige schwarze Tafeln, gigantische Lineäler, Besorgniß erregende Buchstabenkästen, Schwamm, Kreide, wandgroße Landkarten - blickten ihm entgegen, und dort auf dem Pulte lag auch jenes liebenswürdige Ruthengeflecht, von dem der Volkswitz singt:

»Der Hansjörg ist bekannt
     In ganz Schlesingerland;
Wenn er gleich betrunken ist,
     Hat er doch seinen Verstand«,

oder der ominöse Haselstock, dessen holdes Dasein den Dichter zu der anerkennenden Betrachtung begeistert:

»Trägt der Knabe seine ersten Hosen,
     Steht schon ein Pedant im Hinterhalt,
Der ihn hudelt, ach, und ihm der großen
     Römer Weisheit auf den Rücken malt.«

Dunkle Ahnungen stiegen in dem kleinen sechsjährigen Herzchen empor, und die beengenden Gefühle desselben machten sich erst in einem leise versuchenden Schluchzen und sodann in lautem Weinen Luft, welches allerdings beim Anblicke der gebräuchlichen und verheißungsvollen Zuckerdüte einem seligen Lächeln weichen mußte.

Dieses thränende Lächeln ist für eine ganze Reihe von Jahren des Lernens, ja, wohl für die ganze Lebenszeit von prophetischer Vorbedeutung gewesen. Ueber unser kurzes Dasein ziehen der Wolken gar viele, und die Lichtblicke des Glückes sind seltener, als der Sterbliche sie wünscht. Nur durch Arbeit gelangt er zu den Zielen, deren Erreichung der Zweck seines Lebens ist und ihm ermöglicht wird durch die Ausbildung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten, wie sie die Aufgabe der Schule ist.

Da die wenigsten Eltern die nöthigen Fähigkeiten und Kenntnisse besitzen, oder die Zeit haben, um ihren Kindern diejenigen Eigenschaften mitzutheilen, welche zur allgemeinen menschlichen Bildung sowohl, als auch zu ihrer künftigen Bestimmung nothwendig sind, so ist die Errichtung von Schulen eines der hervorragendsten Bedürfnisse, und dem Staate, welcher die Verpflichtung hat, seine Angehörigen zu tüchtigen Menschen und Bürgern zu bilden, ist die Aufgabe ertheilt, für Gründung, Erhaltung und Verbesserung der Schulen nach besten Kräften zu sorgen.

Oeffentliche Anstalten zu einer geordneten Jugendbildung entstanden erst mit der fortschreitenden Entwickelung der Menschen, und in den ältesten Zeiten war der Besuch der Schulen ein Vorrecht für besondere Stände, während das eigentliche Volk davon ausgeschlossen blieb; so in Indien, China, in Babylon, bei den Chaldäern und Medern, Egyptern, Juden, Griechen und Römern. Bei den germanischen Völkern gab es keine Schulen.

Das Christenthum leitete eine neue Epoche des Schulwesens ein. Seinem ganzen Geiste und seiner Tendenz nach mußte es die innere Ausbildung aller Menschen bezwecken, und so geschah es, daß mit der Anstalt der christlichen Kirche allenthalben Schulen verbunden wurden, aus denen sich das entwickelte, was wir die eigentliche Volksschule nennen. Christus selbst sammt seinen Aposteln gehörte dem Volke an, und seine Lehre erstreckte sich nicht nur auf die Erwachsenen, sondern drang bald auch in die jugendlichen Kreise. Die erste christliche Knabenschule gründete der Presbyter Protogenes gegen Ende des zweiten Jahrhunderts zu Edessa. Jetzt hat auch der geringste, der abgelegenste Ort seine Schule, und es giebt keinen sicherern Gradmesser für den Bildungszustand eines Volkes, als den Stand seiner Schulen und die Aufmerksamkeit, welche den letzteren von Seiten des Staates gewidmet wird.

Von den Volksschulen sind die Fach- und Gelehrtenschulen zu unterscheiden, welche höhere oder enger begrenzte Zwecke verfolgen als die ersteren.

Eine ähnliche Aufgabe, wie die der Schulen, wird in denjenigen Häusern verfolgt, welche der zwangsweisen Erziehung, der Besserung gewidmet sind. Hier berühren wir einen wunden Punkt in dem Körper der menschlichen Gesellschaft, dessen Heilung trotz aller Anstrengung erfolglos erstrebt worden ist. Die Sünde, das Verbrechen frißt wie ein böses Geschwür an der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Nationen, und die Strafgesetzgebungen werden fast von Jahr zu Jahr paragraphenreicher. Wer die Geschichte dieser Gesetzgebungen schreiben wollte, müßte seine Feder in Jammer tauchen und dennoch würde es ihm nicht gelingen, ein treffendes Bild jenes Elendes zu entwerfen, welche sich wie ein Sumpf zu beiden Seiten der menschlichen Irrwege dahinzieht.

Aber warum betritt der denkende Mensch diese Wege? Der Denkende? nein, der irrig Denkende betritt sie, und eine Anklage darf sich weniger gegen ihn als vielmehr gegen die-

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jenigen Umstände und Verhältnisse richten, durch welche er irre geleitet wurde. Darum betrachtet der Gesetzgeber der Gegenwart den Verirrten nicht mehr als ein aus der Gesellschaft gestoßenes wildes Thier, sondern als einen durch falsche Erziehung Mißgeleiteten, welcher durch die Sühne zur Besserung geführt werden soll.

»Dunkle Häuser« nennt Gustav Rasch die Anstalten, welche den Uebertretern des elften Gebotes: »Du sollst Dich nicht erwischen lassen« zum Aufenthalte dienen; aber es wird heller und lichter hinter den Mauern; die eisernen Gitterstäbe sind schon längst nicht mehr die Sinnbilder einer ausgesprochenen Hoffnungslosigkeit, und wenn das Thor sich öffnet, so geht gar mancher brauchbare Mensch daraus hervor, welcher mit einer beklagenswerthen Vergangenheit abgeschlossen hat, um einer besseren und schuldfreien Zukunft zu leben. Möchte doch auch das Vorurtheil nach und nach schwinden, welches sich solchen Leuten oft so gewaltig hindernd in den neubetretenen Weg stellt!

Weit, sehr weit würde es uns führen, wenn wir auch nur einen oberflächlichen Blick auf all' die Häuser werfen wollten, welche anderen als familiären Zwecken dienen. Ihre Zahl ist Legion. Bald ist ihre Firma eine friedliche, bald eine kriegerische, bald treten sie anspruchsvoll an die Oeffentlichkeit, bald ziehen sie sich bescheiden in die Verborgenheit zurück, bald schwingt in ihnen der Segen sein fruchtbringendes Scepter, bald brütet der Fluch in ihren finsteren, schmutzigen Winkeln; kehren wir zurück zur traulichen, heimischen Stätte, deren Fenster hell und einladend im Strahle der untergehenden Sonne flimmern, und wo uns ein freundlich Häuslein winkt, da wohnt gewiß auch freundlicher Sinn und offene Herzlichkeit unter seinem Dache, denn wie der Teich, so der Frosch, wie das Loch, so die Maus, wie die Höhle, so der Bär, und wie das Haus, so der Mensch.

Das scheint sehr viel behauptet zu sein, und doch ist's wahr.

Der stolze Aristokrat, welcher sich hoch erhaben dünkt über dem Manne des arbeitenden Volkes, wo baut er sein Haus hin? Hinauf auf die Spitze des Berges. Gleicht es nicht ihm selbst? Unzugänglich ist der Felsen, auf welchem es steht - unzugänglich ist der Stolz seines Besitzers. Millionen hat es gekostet, den Prachtbau zu errichten - wieviel Lebenskraft haben wohl die Wurzeln, Aeste und Zweige eines einzigen Geschlechtes dem ährentragenden Felde, dem arbeitenden Volke entzogen? Hoch erhebt es seine Zinnen, dem Sturme Trotz bietend - auf den höchsten Stufen der Gesellschaft bewegt sich der Bevorzugte, und doch - der Sturm der Zeit hat manche Burg zertrümmert und manchen Stammbaum in den Staub gelegt.

Der nach Gewinn strebende Geschäftsmensch, wie baut er? Dunkle Speicher füllen ein breites Areal - dunkel wie so manches Geschäft ist, und breit, wie sich ihr Besitzer macht. Thüren und Fenster gehen nach innen, außen starrt die nackte Wand - der Egoismus schließt sich ab und ist nach außen hin sowohl im Worte als auch in der That ohne Mittheilsamkeit. Riesige Fabrikräume erheben sich oder strecken sich in die Länge; schwarz und schmutzig legt der Rauch seine Spuren an ihre Mauern; nur der Arbeit gewidmet, entbehren die Säle und Zimmer aller auf Ruhe und Bequemlichkeit deutenden Einrichtungen - so auch der Besitzer. Der Arbeitsdrang baut sein Project in die Höhe oder Breite; die Realität des alltäglichen Lebens gebietet über seine Gedanken und Gefühle, und ruhelos treiben ihn seine Pläne durch ein Dasein, welches nur selten von höheren Rücksichten erleuchtet und verschönert wird.

So baut ein Jeder nach seiner Absicht, seinem Gusto, der Reiche anders als der Arme, der Hochmüthige anders als der Demüthige, der Prahler anders als der Bescheidene, und sollte das Aeußere eines Hauses nicht mit Sicherheit auf den Character seiner Bewohner schließen lassen, so wird dieser Schluß nach einem Blicke auf das Innere sehr bald zu ziehen sein.

Es ist mit der Wohnung fast ebenso wie mit einem Menschenangesichte. Man begegnet irgend Jemandem, den man noch nie gesehen und der Einem auch nie Etwas zu Leide gethan hat, und doch fühlt man sofort, daß man ihm nie Liebe und Vertrauen schenken könnte, ja, es zuckt Einem vielleicht gar in der Hand, als wünsche sie unwillkürlich, mit seinem Gesichte in Berührung zu kommen. Saphir nennt solche Gesichter sehr bezeichnend »Ohrfeigengesichter«. Und ebenso kommt man mit einem vollständig Unbekannten zusammen, mit dem man noch nie ein Wort gewechselt, noch nie etwa Gutes von ihm gehört oder an sich selbst erfahren hat, und doch fühlt man sich zu ihm hingezogen und möchte ihm gleich vom ersten Augenblicke an nur Freundlichkeit und Liebe erweisen. - Ebenso betritt man eine Wohnung, in der man noch nie gewesen ist; man kennt weder ihre Einrichtung noch den täglichen Verlauf der wirthschaftlichen Vorkommnisse, und doch weiß man sofort: hier ist nicht gut sein; adieu Madame, ich und das Zimmer und vielleicht auch ich und Sie, wir passen nicht zusammen. Oder man sieht sich eine Stube an und erkennt auf den ersten Blick, daß es sich hier ganz ausgezeichnet wohnen müsse; es kommt Einem Alles so anheimelnd, so traulich vor, es ist, als hätte man das Alles schon längst gehabt und mit gemüthlicher Bequemlichkeit genossen, und ehe man sich's selbst versieht, hat man den apostolischen Entschluß gefaßt: Herr, hier wollen wir Hütten bauen.


Ende des dreißigsten Teils – Schluß folgt.



Karl May: Geographische Predigten

Karl May – Leben und Werk