| Nummer
41 |
Schacht
und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.
Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in
Dresden, Jagdweg 14.
Geographische Predigten.
von Karl May. |
10.
Juni
1876 |
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7.
Stadt und Land.
(Schluß.)
Die Beweglichkeit, welche eine nothwendige
Folge dieser Abrundung ist, macht den Städter geschickt, sich in die
Verhältnisse zu fügen, von den Schlägen des Schicksals sich schnell zu
erholen und ertheilt ihm eine Elasticität des Geistes, welche Alles in
ihren Bereich zu ziehen sucht und vor nichts Schwierigem zurückbebt,
sobald es überhaupt durch Menschenkraft erlangt oder ausgeführt zu werden
vermag. Das bereits Gewonnene und Eroberte wirft er leicht hinter sich und
schreitet gern von einem Ziele zum andern.
Freilich hat diese Beweglichkeit auch ihre Gefahren. »Andre Städtchen,
andre Mädchen« sagt ein altes Sprüchwort und bezeichnet jene
Unbeständigkeit, der man in den Straßen der Städte weit öfterer begegnet
als auf den Wegen des Dorfes. Während wir den Bewohner des Letzteren
conservativ nannten, fügt sich der Bewohner der Stadt leichter in einen
Wechsel der Verhältnisse und ist ebenso leicht zu einer anderen Ansicht
und Meinung zu bestimmen. Politische Aenderungen, Umgestaltungen,
Revolutionen etc. sind wohl kaum jemals vom platten Lande ausgegangen,
sondern die eigentlichen Herde solcher Umwälzungen waren fast immer jene
großen, reichbevölkerten Städte, in denen sich die Meinungen begegnen,
reiben und, eine von der andern getragen und gehoben, zu Gewalten
anwachsen, denen sich selbst die geheiligtsten Einrichtungen unterwerfen
müssen.
Da es vorzugsweise die Städte sind, in denen die Cultur des Geistes ihre
Wohn- und Werkstätten sich errichtet, so treten hier auch alle diejenigen
Mißstände, welche eine leider unvermeidliche Folge unserer Civilisation
sind, am ersten und augenfälligsten hervor. Die »Barbarei der Gesittung,«
wie man jene Mißstände genannt hat, macht sich am liebsten da geltend, wo
bei dem Zusammenleben vieler Menschen das Geschick des Einzelnen der
allgemeinen Beachtung entgeht oder den Interessen der Gesammtheit zum
Opfer fallen muß. Hier liegen auch die verborgenen Winkel und Höhlen, aus
welchen die sittliche Corruption, das Laster und Verbrechen sich auf seine
Opfer stürzt oder, unter Puder und Schminke verborgen, seine Netze
auswirft, um den Leichtsinnigen und Unerfahrenen in scheinbar süße, aber
verderbenbringende Bande zu schlagen. -
Stadt und Land. Es liegt ein Gegensatz in diesen beiden Worten, und wie
die Gegensätze sich gewöhnlich anzuziehen pflegen, so findet auch hier
eine beiderseitige Anziehung statt, welche man fast täglich beobachten
kann.
Wenn der Rauch und Staub der Straßen, das Geräusch und Gewühle des
Verkehres dem Städter einmal zu lästig wird, dann greift er nach Parapluie
und Ueberzieher, hängt seiner schönern Hälfte die schwarzseidene Mantille
über den Arm, stellt die Schaar seiner hoffnungsvollen Sprößlinge in Reih
und Glied und wandert in pleno seines Weges fürbaß, bis ihm zwischen in
natürlicher Unbefangenheit sich präsentirenden Bauergütern der
vielgeprüfte Thurm einer alten Dorfkirche entgegenblickt. Hier wird, mag
es nun zur Zeit der »Boombluth,« der Rettigsbirnen oder des »grauen
Mostes« sein, die Amtsmiene und städtische Ehrwürdigkeit auf einige
Stunden in Ruhestand versetzt; das Schild über der Thür des Wirthshauses
ist zwar seit dreißig Jahren nicht mehr ganz genau zu buchstabiren, aber
man weiß aus Erfahrung, was es zu bedeuten hat; es findet sich diese und
jene edle Seele, diese und jene redselige Gevatterschaft zusammen oder es
treffen sich ganz unvermuthet ein paar sehr nahe Verwandte - »aus sieben
Ranzen eine Haare« - die sich seid Olims Zeiten nicht mehr gesehen oder
einander früher gar nicht gekannt haben, und da man mit dem festen
Vorsatze gekommen ist, sich unter allen Umständen ein Vergnügen zu machen,
so ist der Spaß bald an allen Ecken und Enden los, man findet Alles gut
und vortrefflich, und wenn auch auf dem Rückwege der eingedrückte Hut dem
Herrn Gemahl etwas im Genicke sitzt, die Frau Gemahlin nicht mehr ganz
genau weiß, ob sie ihn oder er sie führt, und die liebenswürdigen Kleinen
in allen Dur- und Molltonarten lachen, singen, pfeifen oder nach dem Bette
weinen, man ist doch auf dem Lande gewesen, und die Partie war wirklich
köstlich, gottvoll heute!
Ebenso freut sich der Bewohner des Landes schon lange Zeit vorher auf den
Tag, an welchem er mit den Seinen »zur Stadt« geht. Besonders sind es die
Jahrmärkte und Vogelschießen, welche magnetisch wirken. Der beste »Staat«
wird hervorgesucht; in der Tasche klimpern die wohlgeputzten Thaler, und
auf allen Wegen sind behäbige Gestalten zu sehen, die im süßen Gefühle,
daß die Kartoffeln gut gerathen werden und der Hafer aufgeschlagen ist, im
Vollbewußtsein ihrer ein-, zwei-, drei- und vierspännerlichen Bedeutung
gemessenen Schrittes aus allen Richtungen herbeiwallfahrten. Und wenn nach
all' den ausgestandenen Rippenstößen und Fußtritten der Heimweg angetreten
wird, so ist man glücklich, sich einmal gründlich umgesehen und dem
Städter gezeigt zu haben, daß »hinter dem Berge auch noch Leute wohnen.«
Während auf diese Weise ein kleines Landstädtchen für seine Umwohner den
Inbegriff alles Schönen und Wünschenswerthen, den Mittelpunkt alles
geschäftlichen und gesellschaftlichen Verkehres bilden kann, giebt es
unzählige wanderlustige Seelen, die bei dem Beginne des Sommers ihre
Schwingen rüsten, um hinauszufliegen in die schöne, weite Gotteswelt, ein
Fleckchen Erde nach dem andern zu durchstreichen und Land und Leute recht
gründlich kennen zu lernen. Da giebt es denn bestimmte Land- und
Ortschaften, welche sich der Gunst dieser ruhelosen Wandervögel ganz
besonders erfreuen und sich deshalb mit jedem neuen Jahre auf neuen,
zahlreichen Besuch einrichten. Da sind es Residenzen oder sonst
bedeutendere Städte, Badeorte, Inseln oder ganze Gegenden, welche in Folge
ihrer Naturschönheiten oder der in ihnen angesammelten Kunstschätze sich
eines vortheilhaften Rufes
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erfreuen und den Sammelpunkt der Fußreisenden und Passagiere erster,
zweiter, dritter und vierter Wagenclasse bilden.
Kein Wunder, wenn die Bewohner solcher Länder, Gegenden oder Städte mit
Stolz von ihrer Heimath sprechen und mit anhänglicher Liebe ihr zugethan
sind! »Das heilige Reich der Mitte« nennt der Chinese sein Land, als ob die
anderen Länder als werthlose Anhängsel sich nur so um dasselbe gruppirten,
und wenn er zu noch so vielen Tausenden nach dem fernen Amerika auswandert,
um dort einem spärlichen und genügsamen Erwerbe nachzugehen, er bleibt doch
ein treuer Sohn der heimathlichen Erde und sorgt mit Aufbietung aller Kräfte
dafür, daß wenigstens seine Leiche in derselben zur Ruhe bestattet werde.
»La belle france,« das schöne Frankreich, nennt der Franzose sein Vaterland
und vergleicht es mit diesem Ausdrucke einer Schönen, mit welcher keine
Andre zu vergleichen ist und der er Treue geschworen hat bis in den Tod.
»Ich hab' mich ergeben mit Herz und mit Hand,« singt mit eben solcher Treue
der Deutsche; »nach Sevilla, nach Sevilla!« ruft der Spanier; »Wangenglanz
des Weltenangesichtes, o Istambul!« redet der Türke sein Constantinopel an;
»Cahira, die Unvergleichliche,« nennt der Eypter sein Cairo; »die Königin
des Meeres« hieß das stolze Venedig bei seinen früheren Bewohnern, und
»Du bist die weitberühmte Stadt,
Von Glanz und Ruhm erhellt,
Der man mit Recht gegeben hat
Den Namen 'Goldne Welt'«,
sagt Ramiers von dem berühmten Brügge. An solchen individualisirenden
Bezeichnungen ist stets etwas Wahres, denn jede Stadt, ja überhaupt jede
Ortschaft hat ihren eigenen Character und stellt sich, wenn dieser Ausdruck
hier erlaubt ist, als eine Persönlichkeit dar.
Aber nicht blos positive, sondern auch negative Eigenschaften sind es,
welche gewissen Gegenden und Oertern einen hellen Nimbus verleihen. Man
denke nur an das wundervoll geistreiche Lied:
»Die Pinzgauer wollten wallfahrten gehn
Und wollten schön singen und konnten's nit schön:
Zschiha, Zschihu, Zschiho,
Die Pinzgauer sind schon do!«
oder an die berühmten Schildbürger und Bewohner von Krähwinkel, wenn nicht
gar an das weltbekannte Tripsdrille, »wo die Pfütze über die Weide geht.«
Wie man früher possierlicher Weise die Orgeln in ganze, halbe, Viertel- und
Achtel-Orgeln eintheilte, so spricht man auch von Städten ersten, zweiten,
dritten, vierten etc. Ranges, und jeder Ort strebt, in dieser zweifelhaften
Stufenordnung eine höhere Stelle einzunehmen. Und ist gar die
Hunderttausendzahl der Einwohner voll, so steuert man mit vollen Segeln auf
die »Weltstadt« zu, und doch beweist die Geschichte, daß sehr oft ein
kleines, unbedeutendes Städtchen oder Dörfchen größeren Einfluß auf die
Richtung und Gestaltung des Völkerlebens ausübte, als die bevölkertste
Metropole. Die Riesenstädte der Vergangenheit liegen unter Schutt und
Trümmer, und die Babels und Ninive's der Gegenwart breiten ihre Häuserreihen
über Orte, an denen damals der Bär mit dem Auerochsen kämpfte. So folgt in
dem großen, allgemeinen Entstehen und Vergehen Eins dem Anderen, und wie
kein Mensch sein Schicksal vorauszusehen vermag, so liegt auch die
Geographie der Zukunft hinter dichtem, undurchdringlichem Schleier
verborgen.
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Ende des sechsundzwanzigsten Teils – Haus
und Hof.
Karl May: Geographische Predigten
Karl May – Leben und
Werk