Nummer 37 Schacht und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.

Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden, Jagdweg 14.

Geographische Predigten.

von Karl May.
13. Mai 1876


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7.
Stadt und Land.


»Wohl dem Manne, welchem es gelang, im
Kreise seiner Mitbürger festen Fuß zu fassen;
er hat sich aus der Brandung des Lebens
gerettet auf den sichern Felsen eines heimath-
lichen Herdes!«                            B. Franklin.


Der Vergleich des Lebens mit einer Brandung hat seine volle Berechtigung. Die gewaltigen Wogen der Zeit umrauschen den winzigen Planeten, welcher auf seiner zerbrechlichen Kruste das Volk der Menschen trägt; sie thürmen sich hoch empor an den Grenzen des irdischen Lebens, lecken und nagen an der trügerischen Festigkeit alles Bestehenden und lassen ihre Donner über den ganzen Kreis der Erde erschallen. Jahre, Monden, Wochen, Tage und Stunden fluthen in endlosem Drange über die Scene und wälzen aus ihren unergründlichen Tiefen jene zusammenhängende Reihe von Ereignissen an die Sonne, welche den Inhalt und Gegenstand der Geschichte bilden. Das gährt und treibt, das wallt und gebährt, das kocht und sprudelt, das spritzt und zischt, und kein einziger dieser Tropfen ist ohne Inhalt, jede dieser Wogen birgt ihre Thatsachen, und unerforschliche Gesetze geben dem scheinbar Getrennten und Beziehungslosen innigen Zusammenhang.

Wie in der Brandung eine Welle die andere verdrängt, eine Woge mit der andern kämpft, so zeigt auch das Leben einen nicht endenden Kampf des Nahenden mit dem Verschwindenden, des Zukünftigen mit dem Bestehenden, des Einen mit dem Anderen. Nur der Geist hat eine ewige Berechtigung, das Körperliche, das von ihm Geschaffene und ihm Unterthänige darf nur für diejenige kurze Zeit bestehen, welche zu seiner Reife erforderlich ist und muß nach erfülltem Zwecke verschwinden, um neuen fruchtbaren Erscheinungen Platz zu machen. Im Branden thürmen sich die Wasser, im Ringen wächst die Kraft, und wie die gestaltlose Zeit selbst die festesten Welten zerbröckelt, so schreitet auch in dem Turniere zwischen Stoff und Idee, zwischen Körper und Geist der letztere von einem Siege zum anderen und unterwirft sich wie spielend physische Kräfte, deren Bezwingung unmöglich zu sein schien.

Dieser Alles bewältigende Geist hat seine siegreiche Macht nur einem einzigen irdischen Wesen, dem Menschen, verliehen und ihm damit die hohe Aufgabe ertheilt, das Todte zu beleben, das Formlose zu gestalten, das Starre zu bewegen und den Triumph des Gedankens über Land und Meer zu tragen. So wird der Mensch der Held der irdischen Schöpfung, obgleich er äußerlich nicht für dieses Heldenthum ausgestattet zu sein scheint. Für den Krieg der Geschöpfe gegen einander ist fast jedes derselben mit einer Waffe ausgestattet worden, welche sich entweder für den Angriff, die Vertheidigung oder auch zu beiden zugleich eignet. Der Löwe hat seine Pranken, der Bär seine Tatzen, der Elephant seine Klugheit und Stärke, der Affe seine Gelenkigkeit, der Fuchs seine List, der Stier seine Hörner, der Hirsch seine flüchtigen Läufe, das Krokodil, der Hai seinen fürchterlichen Rachen, der Vogel seine Schwingen, die Schlange ihr Gift, der Krebs seine Schere, die Muschel ihr schützendes Gehäuse, und selbst diejenigen Thiere, denen eine Waffe zu fehlen scheint oder auch wirklich fehlt, werden durch ihre Farbe und Aehnliches vor Gefahr oder durch hohe Fruchtbarkeit vor dem Aussterben geschützt. Jedenfalls aber steht keines derselben unter einer so langjährigen Hilfsbedürftigkeit, wie diejenige ist, mit welcher das menschliche Kind auf die unausgesetzte elterliche Pflege und Bevormundung angewiesen wird.

Es ist ein weiter und schwieriger Weg von dem lallenden Wickelkinde bis zum stolzen »Herrn der Schöpfung«, und nur durch unausgesetzte Anstrengung des Geistes führt er zum Ziele. Der Einzelne kann ihn unmöglich selbstständig zurücklegen; er ist an die Hilfe, die Lehre und den Rath zahlreicher Anderer gewiesen und vermag sich nur durch sie die Erfahrungen der verflossenen Jahrhunderte anzueignen, um so mit einem Schritte die Vergangenheit zurückzulegen und die Spitze der allgemeinen Entwickelung zu erreichen.

Und nicht blos in geistiger, nein, auch in rein äußerer, in körperlicher Beziehung ist er an die Angehörigen seines Geschlechtes gebunden. Nur durch sie und ihre Errungenschaften findet er Schutz und Schirm gegen die Feindseligkeiten, denen er vom ersten Tage seines Lebens bis zum letzten Augenblicke desselben ausgesetzt ist, und darum ist von Anbeginn der Geschichte an das Streben des Einzelnen, mit Seinesgleichen in Vereinigung zu treten, zu beobachten. Die natürlichste und engste Vereinigung findet im Kreise der Familie statt, und von ihr aus ziehen sich immer weitere Kreise, bis der letzte und größeste derselben die ganze Menschheit umfaßt.

Schon der Alleinstehende suchte Schutz vor dem Unbill der Witterung und zahlreichen anderen Fährlichkeiten unter dem Dache einer Wohnung, die er seinen Bedürfnissen gemäß einrichtete. Bald aber kam er zur Erkenntniß, daß er seinen Zweck durch die Vereinigung mehrerer und wo möglich vieler Wohnungen leichter und vollständiger erreiche. Dieser Gedanke gab den Anstoß zur Gründung dessen, was wir jetzt eine Gemeinde nennen; es entstanden gesellige Niederlassungen, welche nothwendiger Weise bald einen politischen Character annahmen und zuweilen zur Entstehung wichtiger Staaten, ja, gewaltiger Weltreiche führten.

Die Gegenwart hat auch in Beziehung auf das Gemeindewesen herrliche Fortschritte hinter sich, aber in Beziehung auf die Großartigkeit der Niederlassungen finden wir schon im grauen Alterthume höchst augenfällige Beispiele. Es sei hier nur an Babylon und Ninive erinnert.

Die erstere der beiden Städte lag am Euphrat, der sie in zwei Theile schied, und bildete ein Viereck, dessen Umfang nach Herodot 12 deutsche Meilen betrug. Die über 2 Millionen betragende Einwohnerschaft wurde beschützt durch eine

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rings um die Stadt gehende, 200 Ellen hohe und 50 Ellen breite Mauer, auf welcher 6 Wagen bequem neben einander fahren konnten und durch welche 100 Thore von Erz in das Freie führten. Die graden Straßen liefen mit dem Flusse parallel und wurden von anderen rechtwinkelig durchkreuzt, wodurch 625 kleinere Vierecke entstanden. Unter ihren Prachtgebäuden, zeichneten sich die beiden Königspaläste und die Gärten der Semiramis aus, vor allen Dingen berühmt war aber der Thurm zu Babel, von welchem schon 1. Mos. 11 Erwähnung gethan wird. Hier ist freilich die Sage wohl von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Die Talmudisten machten ihn 70 Meilen hoch, nach orientalischer Ueberlieferung betrug seine Höhe 10000 Klaftern, nach der Meinung noch Anderer soll er 25000 Fuß gemessen haben, und zugleich wird behauptet, daß 1 Million Menschen 12 volle Jahre daran gearbeitet hätten. Gewiß ist nur, daß sich auf der Ostseite des Euphrat wirklich ein thurmartiges Gebäude befunden hat, dessen Basis 360000 Quadratfuß und dessen Höhe 600 Fuß betragen haben soll. Das oberste der 8 Stockwerke war ein Tempel des Baal, in welchem sich ein goldener Tisch und ein prachtvolles Bett befand. Im untersten Stockwerke stand eine 12 Fuß hohe goldene Bildsäule des Gottes; die Treppen, mittelst deren der Thurm erstiegen wurde, führten von außen empor. Noch jetzt findet man dort einen 198 Fuß hohen und 1525 Fuß im Umfange haltenden Steinhaufen, in welchem man die Trümmer des Thurmes zu sehen glaubt.

Ninive, die Hauptstadt Assyriens hatte einen Umfang von 12 geographischen Meilen; die Mauer war 100 Fuß hoch und so dick, daß darauf 3 Wagen neben einander fahren konnten. Auch sie liegt heut in Trümmern, und ungeheure Ziegelhaufen sind die einzigen Zeugen einer längst verschwundenen Pracht und Herrlichkeit.

Außer diesen hervorragenden Beispielen war im Alterthume die Anlegung von Städten eine höchst einfache. Ob politische und religiöse Gründe oder auch Rücksichten des Handels zum Anbau nöthigten, war es fast immer ein Tempel, um welchen sich die Häuser ordnungslos gruppirten; später kam dazu ein Theater, ein Gymnasium, ein Versammlungshaus für obrigkeitliche Personen, ein Markt und einige Brunnen, und zum Schutze wurde das Ganze mit einer Mauer umschlossen.

Merkwürdig waren in Italien die Gebräuche der Etrurier beim Städtegründen. Es wurde nämlich zunächst eine Grube gegraben, in welche man die Erstlinge von allen Naturproducten warf, und dann gab Jeder, der die Stadt beziehen wollte, eine Handvoll Erde seines Heimathslandes hinein. Darauf spannte der Gründer einen weißen Stier rechts und eine weiße Kuh links an einen Pflug und zog in einem Vierecke eine ununterbrochene und gleichmäßig fortlaufende Furche, wobei er die Schollen nach inwendig warf, deren Anhäufung die zu erbauende Mauer und deren Vertiefung den Graben vorbildete. Wo ein Thor stehen sollte, wurde der Pflug aufgehoben und über die Stelle weggetragen.

In Deutschland, besonders dem westlichen, entstanden schon frühzeitig Städte aus den römischen Lagern und Castellen. Im östlichen Deutschland entstanden die meisten Städte zur Zeit Heinrichs des Voglers, welcher den je neunten Mann aller wehrhaften Leute von den Landbauern trennte und zur Anlegung und Erhaltung von Städten bestimmte, um bei den Einfällen der Ungarn und Slaven Zufluchtsorte zu besitzen. Dieser weisen Einrichtung verdankte der nun besondere Stand der Städter seine Entstehung.

Später, im elften Jahrhunderte, gewannen die Städte durch republikanische Verfassung, Handel und Ordnung ein hohes Ansehen. Dies erregte die Eifersucht des Adels, der außer- oder sogar auch innerhalb der Städte besondere Befestigungen bewohnte, und so entspannen sich bald blutige Fehden zwischen Adel und Städten. Dies gab Veranlassung zu größeren Vereinigungen von Städten zum Zwecke gegenseitiger Hilfe. Das erste Beispiel hiervon gab der Bund der lombardischen Städte, welche sogar den deutschen Kaisern furchtbar wurde. Ihm folgte der rheinische Städtebund und der Bund der schwäbischen Städte.


Ende des zweiundzwanzigsten Teils – Fortsetzung folgt.



Karl May: Geographische Predigten

Karl May – Leben und Werk