| Nummer
36 |
Schacht
und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.
Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in
Dresden, Jagdweg 14.
Geographische Predigten.
von Karl May. |
6.
Mai
1876 |
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6.
Strom und Straße.
(Schluß.)
Wie der Landmann eines Weges bedarf, um auf
den Acker, die Wiese und in seinen Forst zu gelangen, so kann auch die
Bodencultur im Großen und Ganzen der Verkehrsstraßen nicht entbehren,
durch welche sie den Bezug ihrer Bedürfnisse und den Absatz ihrer
Erzeugnisse ermöglicht. Und ebenso ist es mit der Industrie und dem
Handel, welche in der Landwirthschaft ihre eigentlichste Basis finden und
von ihr in hohem Grade beeinflußt und in Abhängigkeit gestellt werden.
Bei der rasch fortschreitenden Entwickelung aller unsrer geschäftlichen
Verhältnisse macht sich vorzugsweise das eifrige Bestreben geltend, die
Schranken möglichst zu überwinden, welche Zeit und Raum dem menschlichen
Fleiße entgegenstellten. Zeit ist Geld, und mit dem Raume wachsen die
Kosten. Während also die Einrichtung aller unserer heutigen Verkehrsmittel
dahin zielt, den Verkehr zu beschleunigen und der Bewegung die
erreichbarste Geschwindigkeit zu geben, ist die Construction unserer Wege
und Straßen dahin berechnet, dieses Bestreben zu unterstützen, indem man
den Raum zu verkürzen, zu verkleinern sucht.
Die Herstellung solcher dem Verkehre dienender Wege und Mittel erfordert
zwar gegen früher ein ganz bedeutend höheres Anlage- und meist auch
Betriebscapital, aber die Einnahmen stehen mit diesen Ausgaben auch in
einem geraden und befriedigenden Verhältnisse, denn der Aufschwung des
Verkehres zieht ganz nothwendiger und natürlicher Weise auch einen
Aufschwung der Arbeit nach sich und bricht die Fesseln, welche den
Menschen an die Scholle binden, auf welcher er geboren ist: Er tritt aus
seinen engen Schranken heraus und wird Weltbürger; die Verhältnisse
nivelliren sich; die Gegensätze gleichen sich aus, und mit der Erweckung
neuer Bedürfnisse geht ihre schnelle und billige Befriedigung, welche der
Civilisation zu Nutzen arbeitet, Hand in Hand.
Strom und Straße. Welche Fülle von interessanten Bildern und Erinnerungen
wecken diese beiden Worte in uns! Von der Forelle im kühlen Waldbache und
dem Krebse in den Höhlungen seiner Ränder bis hinunter zum riesigen Stör
an den Mündungen des Meeres verfolgen wir eine Reihe Erscheinungen aus dem
Tierreiche, welche schon die Phantasie des Knaben lebhaft beschäftigen und
sowohl der Wissenschaft als dem Gaumen auch des erwachsenen Mannes nicht
gleichgültig sind. Von dem kleinen Papierschiffe, welches das spielende
Kind, sich als großer Seecapitain oder gar Admiral dünkend, der seichten,
klaren Welle anvertraut, bis zum mächtigen Flosse oder dem feuersprühenden
Dampfer, der den Verkehr des Binnenlandes mit den entferntesten Gestaden
vermittelt, schweift das Auge über eine reiche Zahl von Einrichtungen,
welche der menschliche Geist erfunden hat, um sich das tägliche Brod zu
erwerben, welches freilich seine anspruchslose Gestalt sehr oft auch in
die eines feineren Gebäckes verwandelt und zur Delicatesse wird. Auch
müssen wir an die mythologischen und phantastischen Gestalten denken, mit
denen die Alten und der Aberglaube späterer Zeiten die Bäche, Flüsse und
Ströme belebte.
Bei den reichen Segen, welchen ein Fluß seinen Anwohnern, ja ganzen,
weitgedehnten Länderstrecken gewährte, war es kein Wunder, daß die
Völkerschaften des Alterthums, die ja jeder Idee gern eine persönliche
Gestaltung gaben, auch den Strömen Wesen unterstellten, in deren Character
die Eigenschaften des flüssigen Elementes einzeln oder im Verein zur
Geltung kamen.
Jedes strömende Wasser, war es noch so klein oder auch noch so groß, hatte
einen Gott oder eine Göttin, und so geschah es, daß man wohl gar beide als
gleichbedeutend nahm und dem Flusse göttliche Verehrung erzeigte. Noch bis
in die neueste Zeit hat sich diese Heilighaltung, wenn auch in
verschiedener Weise und verschiedenem Grade, erhalten, und es mag hier nur
genügen, auf den Nil und den Ganges zu zeigen, womit zugleich darauf
hingewiesen ist, daß das Gesagte besonders auf die Völker des Orients
Bezug findet.
Auch bei uns beschäftigt der Aberglaube sich mit Vorstellungen, welche die
Wasser von übernatürlichen Wesen bewohnen lassen. Um auch hier von der See
zu sprechen, so hat der Matrose seinen Klabautermann, seinen
Windstillenseegeist, seine Gespenster-, Nebel- und Feuerschiffe, seinen
fliegenden Holländer, seinen schwarzen Piraten, deren Zahl um viele
gespenstische Capacitäten vermehrt werden könnte. Der Nordländer hat
seinen »Stromgeist«, der Westländer seinen »ghost of the river«, der
Binnenländer seine Wassernixen, und wenn heut' auch Jedermann die Sage von
der Wirklichkeit wohl zu unterscheiden weiß, so sind diese Sagen doch
unumstößliche Beweise früherer Kriterien.
Aber nicht blos im Wasser, sondern auch zu Lande auf den Wegen treibt
allerlei Spuk sein Wesen. Besonders sind es die Kreuzwege, welche in
Verruf gerathen sind, weil auf ihnen zu gewissen Zeiten heilloses
Teufelsgezücht versammelt ist oder man auf ihnen Bannungen und Citationen
vornehmen kann, wie die schwarze Magie sie ihren leichtgläubigen Jüngern
lehrt oder vielmehr weißmacht. Fast jede Stadt, jedes Dorf hat in seiner
Umgebung irgend einen Weg, auf welchem es »nicht richtig ist«, auf welchem
es »umgeht«, und dergleichen dumme Dinge wurzeln viel tiefer und fester in
dem Hirne des Volkes, als man meinen sollte.
Ein anderer, aber doch auch ein Spuk war der, welcher auf allen Wegen und
Stegen und bei hellem, lichtem Tage unter der Devise: »Entschuldigen Se,
een armer Reesender« seine unzähligen Anfälle auf Männlein und Weiblein
machte. Gegen diese Erscheinungen half kein »Alle guten Geister loben
ihren Meister«, half kein Kreuzschlagen, kein Paternosterseufzen, sondern
die einzige Rettung bestand in einem
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Griffe in die Tasche, dessen klingender Erfolg der Herr Urian dann
kratzfußend mit einem »'schamster Diener« oder »Vergelts Gott zwanzig
Tausendmal« quittirte.
Man sieht, diese Art Wesen fürchtete sich nicht, Gott im Munde zu führen,
und aus einer Begegnung mit ihnen war also keine Gefahr für das Heil der
Seele zu befürchten, vielmehr war ihre leibliche, ihre körperliche
Ausstattung gar oft dazu angethan, Gefühle zu erwecken, welche ein Zeichen
der wahren Frömmigkeit sind, aber ihr Anblick erinnerte doch zuweilen an die
Sceggemy leggemy, die »armen Burschen« Ungarns, welchen jedmänniglich gern
aus dem Wege geht, sintemalen ihnen wenig Gutes, wohl aber mancherlei
schlimmer Schabernack zuzutrauen ist.
Diese Species stammte von »zu Hause«, hatte seine Heimath »bei Muttern«,
nahm Absteigequartier »in der Herberge« und bereiste fechtbummelnd Böhmen,
ohne einen Satz böhmisch, Frankreich, ohne ein Wort französisch, Dänemark,
ohne eine Sylbe dänisch, und Polen, ohne einen Laut polnisch sprechen oder
verstehen zu können. Kenntlich war das Individuum an dem zersessenen,
ackerfurchigen Hute, den nach Luft schnappenden Stiefeln, dem
graubraungrüngelben Hemdenkragen, den charpiefaserigen Hosen und Rockärmeln,
dem »Berliner«, dem Knotenstocke, dem schlendernden »Komm-ich-heut-nicht-,
komm-ich- morgen-gang« und einem Wanderbuche, in welchem sich die liebe
Polizei durch gar manche holdselige Bemerkung wegen des »Bettels« verewigt
hatte.
Auch dieser Spuk hat der unbarmherzigen Aufklärung weichen müssen; keine
halb verschmachtete Nordhäuserkehle flötet mehr auf der staubigen Chaussee
ihr klagendes
»'nen alten Gottfried hab' ich noch,
Der hat im Arm een großes Loch,
O Jemine, o Jerum!«
oder das beschaulich-erbauliche
»Wenn ich so off der Straße steh'
Und mir mein kleenes Geld beseh,
Da finde ich's, potz Sapperlot
Keen Bischen weiß, 's ist Alles roth!«
Es kann gar nicht geleugnet werden, daß in dem frischen, fröhlichen
Wanderleben ein Reiz liegt, welcher den Fuß nach kurzer Ruhe immer wieder
hinauszieht in die schöne, reiche Gotteswelt; auch waren die Anschauungen
und Erfahrungen, welche der »Handwerksbursch« von seiner Wanderschaft mit in
die Heimath brachte, von nicht geringem Werthe für ihn und Diejenigen, mit
denen er in Berührung kam; aber die Gegenwart duldet nicht mehr den
Bummelschritt der Vergangenheit; sie hält es für eine Sünde gegen die
Pflichten des menschlichen Berufes, die kostbare Zeit und Arbeitskraft auf
die Landstraße zu werfen, und bietet einem jeden arbeitslustigen und nach
Erfahrung strebenden Menschen der Mittel und Wege genug, ohne Verschwendung
des Augenblickes und der ihm innewohnenden Gaben zum Ziele zu gelangen.
Mag man immerhin die verloren gegangene Poesie des »Lebens auf der Walze«
beklagen, eine große Anzahl der diesem Leben und Treiben Ergebenen waren
Verehrer des süßen Nichtsthuns, lebten aus der Tasche Anderer und mußten
moralisch als die Verbreiter von Gesinnungen genannt werden, welche mit der
Zucht und Sitte nicht im Einklange stehen.
In der sittlichen Verkommung kann niemals eine Poesie liegen, und wer will
es wohl wagen, das gigantische Ringen der jetzigen Zeit, den selbst die
gewaltigsten Hindernisse überwältigenden, stolzen Flug des alle Versäumniß
hassenden Menschengeistes poesielos zu nennen? Unsere Ströme werden
schiffbar und tiefer, unsere Straßen breiter und kürzer, unser Jahrhundert
schlendert nicht, nein, es rauscht auf den Fittichen des Dampfes seinen
Zielen zu, und einem Jeden gilt der Mahnruf: »Rasch einsteigen, die Glocke
hat zum dritten Male geläutet!«
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Ende des einundzwanzigsten Teils – Stadt
und Land.
Karl May: Geographische Predigten
Karl May – Leben und
Werk