Nummer 35 Schacht und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.

Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden, Jagdweg 14.

Geographische Predigten.

von Karl May.
29. April 1876


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6.
Strom und Straße.
(Fortsetzung.)

Wenn die mit Feuchtigkeit und Electricität geschwängerte Atmosphäre ihre Last nicht mehr zu halten vermag, dann erhebt das Gewitter seine grollenden Donner und durchzuckt mit leuchtenden Blitzen den zur Nacht gewordenen Tag. Hohen Segen vermag es der ermüdeten und lechzenden Erde zu bringen; es erquickt die Natur nach angestrengtem Schaffen und sättigt den Boden mit neuen, fruchttreibenden Kräften. Aber auch das Verderben lauert hinter den hoch auf sich thürmenden Wolken, denn, wie Schiller sagt:

»Doch furchtbar wird die Himmelskraft,
Wenn sie der Fessel sich entrafft,
Einhertritt auf der eignen Spur
Die freie Tochter der Natur.
Wehe, wenn sie losgelassen,
Wachsend ohne Widerstand,
Durch die volksbelebten Gassen
Wälzt den ungeheuren Brand!
Denn die Elemente hassen
Das Gebild der Menschenhand.
Aus der Wolke
Quillt der Segen,
Strömt der Regen,
Aus der Wolke, ohne Wahl,
Zuckt der Strahl.«

Dann frißt das glühende Element die Erzeugnisse der menschlichen Arbeit mit nur schwer zu bewältigender Gier, und die Fluthen, von rapidem Wachsthum über die schützenden Ufer getrieben, rollen über Feld und Flur, ziehen das vergeblich gegen sie ankämpfende Leben in ihre schmutzige Tiefe und verwüsten die Stätten, in denen der Mensch seine Hoffnungen in die Erde legte, damit sie zu einer reichen Erndte heranreifen möchten.

So auch im Leben des Volkes. Auch hier giebt es einen Blitzstoff, welcher sich nach zunehmender Schwüle über gewisse Kreise entladen und entweder Heil oder Unheil bringen kann.

»Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
Da kann sich kein Gebild gestalten;
Wenn sich die Völker selbst befrein,
Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.
Weh, wenn sich in dem Schooß der Städte
Der Feuerzunder still gehäuft,
Das Volk, zerreißend seine Kette,
Zur Eigenhülfe schrecklich greift!
Da zerret an der Glocke Strängen
Der Aufruhr, daß es heulend schallt
Und, nur geweiht zu Friedensklängen,
Die Losung anstimmt zur Gewalt.«
Die Revolutionen mögen immerhin ihre Vertheidiger haben, welche sich Mühe geben, die Nothwendigkeit derselben zu begründen, es wird doch nie zu leugnen sein, daß die Gewalt eine gefährliche Maßregel sei und die, wenn auch langsamere aber friedliche Entwickelung der staatlichen Verhältnisse einer Ueberstürzung vorzuziehen ist, welche rücksichtslos über Glück und Leben zahlreicher Bürger streitet und den wirthschaftlichen Wohlstand ebenso wie die öffentliche Ruhe und Sicherheit erschüttert. Man hat die segensreichen Folgen der französischen Revolution gepriesen; diese Folgen sind allerdings nicht wegzudemonstriren, aber man vergleiche sie mit den Opfern, welche sie gekostet haben, und sie werden bedeutend an Werth verlieren. Die normale Höhe und Geschwindigkeit einer Strömung ist dem Wohlstande stets günstiger als eine Anschwellung der Fluth, welche auf das Signal »Im Hochlande fiel der erste Schuß« von den mit thauendem Schnee bedeckten Bergen mit drängender Gewalt zu Thale treibt.

Nicht alle Flüsse und Ströme ergießen ihre Wasser in das Meer; sie verlaufen sich zuweilen in sumpfiger Niederung oder versiechen im dürren Steppensande. Ein Blick in das Leben der Völker zeigt uns ähnliche Erscheinungen, über die hier nur eine Andeutung gegeben werden soll. Und wie auf höher liegendem Gebiete das Wasser ein lebhafteres Gefälle zeigt als in ebenen Ländern, so ist auch die Entwickelung der Gebirgsvölker eine durchschnittlich raschere als diejenige der tiefer wohnenden Nationalitäten. Die meisten der heilvollen Anstöße, welche die Geschichte des menschlichen Fortschrittes zu verzeichnen hat, sind von den Bergen herab gegeben worden, und wie jene stagnirenden Gewässer, welche wenig oder gar keinen Zu- und Abfluß zeigen, nur in streng von der Außenwelt abgeschlossenen Hochthälern oder auf ebener Niederung vorkommen, so ist auch nur an diesen beiden Punkten die Erscheinung zu bemerken, daß die Bewohner einer besonderen Gegend oder eines ganzen Landes sich dem kräftigen Vorwärtsdrängen der Cultur entzogen sehen.

Auch ein jeder einzelne Mensch hat seine Wege und Straßen, welche er geht, und fühlt den Einfluß gewisser Strömungen, dessen Wirkung er nicht zu annulliren vermag. Die sonnige Höhe einer von freundlichen Blumen geschmückter Flur, die nebelfeuchte Verborgenheit eines dunklen Waldgrundes, die düstere Armuth einer von Trümmern besäeter Felsenschlucht sind Orte, an denen der Quell zu Tage tritt. Ist's nicht mit der Geburt des Menschen dasselbe? Wie die Richtung eines Flusses von der Beschaffenheit seines Quellgebietes abhängig ist, so ist auch der Ort, an welchem ein Menschenkind das Auge erschloß, nicht gleichgültig für die spätere Richtung seines Lebens, für den Verlauf seines Schicksales. Und wie ein jeder Strom sein Dasein doch nur dem Meere zu verdanken hat, welches ihn mittelst der Wolken speist - Yang - tse - kiang, Meer-Sohn- Fluß, also Oceanssohn, nennen deshalb die Chinesen sehr bezeichnend ihren blauen Fluß - so ist auch jedes einzelne Individuum in geistiger und materieller Beziehung ein Kind zunächst

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seines Muttervolkes und dann im Allgemeinen auch des großen Menschenoceanes, welcher seine Fluthen um den Ball der Erde schlägt. Eine jede Bewegung, welche auf diesem Oceane sich geltend macht, dringt früher oder später bis in die entferntesten Winkel und äußert ihre Kraft in höherem oder geringerem Grade selbst an dem einsamen Kohlenbrenner oder dem Einsiedler, welcher meint, in seiner verlorenen Klause der Welt entfremdet und von ihr abgeschlossen zu sein.

Aus der Quelle des mütterlichen Schooßes fließt das Menschenleben durch den Kreis der Familie und das Gebiet der Gemeinde und des Volkes hinaus in das bewegte Treiben des menschlichen Geschlechtes, überall Zuflüsse aufnehmend, nie ruhend, nie rastend, zu immerwährender Thätigkeit gezwungen, bis es in den Jahren des Alters ermüdet und in immer langsamerem Laufe zögernd seiner Auflösung entgegen geht. Kein Fußbreit des Stromes gleicht dem andern, kein Lebenstag ist ein vollständiges Bild des ihm nächstfolgenden; in reichem Wechsel hat sich die Kraft zu bewähren, und so einförmig auch die Tage irgend eines gewöhnlichen und anspruchslosen Menschen dahinzufließen scheinen, in dem Bette der Alltäglichkeit wirft doch die Strömung ihre Wellen, deren jede bei aller Aehnlichkeit doch so verschieden von der andern ist.

Das Wasser schlängelt sich glitzernd durch die saftige Matte, es springt spielend über die Kiesel des Baches, murmelt träumerisch zwischen buschigen Weiden dahin, rauscht schäumend über die hindernden Wehre, stürzt stiebend und zischend in den Kessel des Falles, fluthet rauschend, bald in gefährlichen Wirbeln, bald in ruhiger, schiffetragender Breite an Städten und Dörfern vorüber und wälzt endlich seine Wogen durch die Mündung, schon längst vorher mit den Gezeiten des Meeres kämpfend. Die Kindheit, das Jünglings-, Mannes- und Greisenalter bieten dieselben Erscheinungen, und überall sehen wir den ordnenden menschlichen Willen in Fehde mit den ungezügelten Gewalten der Natur, welche nur dann des Segens Früchte spenden, wenn sie gezwungen werden, sich weisen Gesetzen unterzuordnen.

Wie oft gleicht das Leben eines Menschen einer breiten, geebneten Chaussee, welche durch lachende Gefilde führt und das Vorwärtskommen beschleunigt, indem sie alle Hemmnisse schon im Vorher glücklich überwunden hat! Solche Menschen, meist hoch oder reich geboren, fliegen von Baum zu Baum, von Blume zu Blume, von Genuß zu Genuß und sehen in dem irdischen Sein nur eine ununterbrochene Reihe von Vergnügungen, in denen sie Glück und Befriedigung zu finden glauben. Und doch ist ihnen das wahre Glück, die wirkliche Herzensbefriedigung versagt, denn das Glück ist kein wirklicher, greifbarer Gegenstand, sondern einzig und allein nur zu finden in dem Ringen nach ihm. Nicht das Ziel ist es, was begeistert, sondern das Streben nach demselben bringt mit jedem neuen Schritte, jedem neuen Erfolge auch immer größere Genugthuung und Beseligung, und ist es erreicht, so schweift der Blick sofort wieder in die Ferne, um sich neue Ziele zu suchen.

Wie oft gleicht das Leben eines Menschen einer angestrengten und mühevollen Wanderung auf steilem, schwindelndem Pfade, der an Abgründen und Schluchten vorüber in das Land des Jenseits führt! Solche Menschen scheinen von der Vorsehung bestimmt, den Fluch: »Im Schweiße Deines Angesichtes sollst Du Dein Brot essen« in ganz besonderer Weise zu tragen; aber grad' die Leiden sind die besten Gaben des Himmels, und in den schmerzensreichen Geschicken ruht eine tiefe göttliche Weisheit und Liebe. Freilich wer das Leben von dem Standpunkte des Vergnügens aus betrachtet, will sich zu dieser Anschauung nicht bequemen; »laßt uns heut essen und trinken, denn morgen sind wir todt,« ist der Wahlspruch, welcher in der Vertheilung der irdischen Gaben eine Ungerechtigkeit des Himmels erkennt und die wohlthätige, erziehende Macht der Noth und der Sorge leugnet.


Ende des zwanzigsten Teils – Schluß folgt.



Karl May: Geographische Predigten

Karl May – Leben und Werk