Nummer 33 Schacht und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.

Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden, Jagdweg 14.

Geographische Predigten.

von Karl May.
15. April 1876


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6.
Strom und Straße.


»Ein friedlich Regiment und eine freie Bahn
Für Alles, was der Mensch gebraucht und schafft,
Das ist es, was der Völker Wohlfahrt gründet.«

Als der Herr der Schöpfung dem Menschen jenen herrlichen Garten baute, in welchem er die ersten Tage seines Daseins in stiller Sammlung verbringen sollte, um sich auf eine thatenreiche und arbeitsvolle Zukunft vorzubereiten, durfte unter den hörbaren Lauten des jungen Erdenlebens auch das Murmeln der Quelle, das Plätschern der Welle, das Brausen des Falles und das Rauschen der Woge nicht fehlen. Und zwar war es nicht der Zweck der Bewässerung allein, welchem die vier Ströme Pison, Gihon, Hidekel und Phrat ihr Entstehen verdankten, sondern das Wasser hat in Beziehung auf den Menschen noch eine andere, eine höhere, man möchte fast sagen eine erziehliche Aufgabe zu lösen.

»Vom Wasser haben wirs gelernt,«

singt der wandernde Müllerbursche, wenn er die Gründe aufzählt, die ihn aus der Heimath in die Fremde geführt haben:

»Das hat nicht Ruh bei Tag und Nacht,
Ist stets auf Wanderschaft bedacht,«

und wer an sich selbst den eigenthümlichen Einfluß empfunden hat, welchen das rastlos zum Meere eilende Element auf das empfängliche Gemüth hervorbringt, dem wird der Glaube an jene Aufgabe nicht schwer werden.

Stellt man sich auf eine Brücke und blickt senkrecht hinunter auf die vorüber eilenden Wellen, so scheint es, als ob das Wasser stehe, während man selbst sich in Bewegung befinde, und recht gut kann man, ohne lächerlich zu sein, diese optische Täuschung zu einem Hinweis machen auf das Sehnen nach der Ferne, mit welchem der Gott der Gewässer die seinem Walten Lauschenden gefangen nimmt.

Der erste Mensch nahm nach seinem Erwachen zum Selbstbewußtsein eine reiche Menge von Gegenständen wahr, durch deren Betrachtung er seine Sinne schärfen und sein Urtheil üben sollte. Die erste Frage, welche er sich stellte, war auf das Wesen dieser Dinge gerichtet, dann aber folgte sofort das Verlangen, ihren Ursprung kennen zu lernen. Lange Zeit hat wohl das paradiesische Elternpaar am Ufer des Flusses gestanden, um Räthsel zu ergründen, welche uns schon seit Jahrhunderten zur offenbaren Alltäglichkeiten geworden sind. Je schwieriger ihrem einfachen und ungeübten Verstande die Lösung wurde, desto mehr hofften sie dieselbe in der Richtung zu finden, aus welcher die Wasser kamen, und so richteten sie ihre Schritte stromaufwärts, bis sie an der Quelle standen und das Räthsel ihnen immer noch Räthsel blieb.

Der forschende Geist kennt keine Ruhe, keinen Stillstand. Thürmt sich ihm ein unüberschreitbares Hinderniß entgegen, so sucht er in andrer Richtung, in andrer Weise sein Ziel zu erreichen. »Das Wasser lockt, die Welle zieht,« heißt es im alten Fischerliede; die flimmernden Strahlen, welche von Streif zu Streif hüpfen, das gesprächige Plätzschern und geheimnisvolle Flüstern an den Ufersäumen, das unaufhaltsame Vorwärtsdrängen der wechselvollen und doch ewig gleichbleibenden Massen, deren Tiefe der Fuß des Unerfahrenen nur zaudernd und zitternd sucht, das spurlose und keine Wiederkehr findende Verschwinden der sich vorüberwälzenden lebenspendenden und doch mit dem Tode drohenden Materie richtet den Flug der Phantasie in das Weite und läßt sie dort die Erklärung des Wunders suchen, welches seine Geburt dem Schooße der Erde, seine Verbreitung dem Gesetze der Schwere und sein stetes Fortbestehen dem Wechsel der Temperatur verdankt.

Fort also, den Wellen nach, immer dem Laufe des Baches, des Flusses, des Stromes entlang bis an die Küsten des nimmersatten, durstigen Meeres wanderte der Mensch, den Lockungen der Nixen und Wassernymphen folgend, denen er sich nicht entziehen konnte. Aber diese Wanderung war nicht in Tagen und Wochen vollendet, sondern sie bedurfte langer Jahresreihen und wurde von zahlreichen Ruhepunkten unterbrochen. Der Sterbliche wollte das Verborgene erkennen, er wollte, wie die Bibel sich ausdrückt, »sein wie Gott;« deshalb mußte er den engen Horizont seiner ursprünglichen Heimath erweitern, mußte das Unbekannte suchen, nachdem er das Bekannte erforscht und begriffen hatte, mußte die Erde mit all' ihren Erscheinungen, Gesetzen und Kräften geistig zu erobern suchen, und ward also von dem Engel mit dem flammenden Schwerdte, von der ihm gewordenen Mission aus dem Paradiese getrieben.

Als er an dem Meere ankam, war er gewachsen, war zum Volke geworden, hatte gelernt, sein persönliches Wohl mit demjenigen der Gesammtheit seiner Brüder zu vereinigen und die Bedingungen zu suchen, von deren Erfüllung dieses Wohl abhängig war. Vor allen Dingen aber hatte er eine werthvolle Erfahrung gemacht, nämlich die, daß die Natur ihm in dem Laufe der Gewässer die besten, kürzesten und bequemsten Straßen bot, welche für die wirthschaftliche und politische Entwickelung seiner Nachkommen unbedingt nöthig waren.

Je mehr die Zahl der Seinen wuchs, desto mehr wuchs in ihnen der Drang nach Ausbreitung über die Erde. Die Gebirge mit ihren Felsenriesen, die Wälder mit ihrer undurchdringlichen Wildniß, die Wüsten mit ihren todesstarren Strecken stellten dieser Ausbreitung noch unbesiegbare Hindernisse entgegen, die fließenden Wasser aber durchbohrten diese Felsenketten, durchbrachen diese Wildnisse, belebten diese Wüsten und luden ihn also ein, treue Kameradschaft mit ihnen zu halten. Und als er dann den ersten schwimmenden Baumstamm gesehen und daraus den Schluß gezogen und zur Anwendung gebracht hatte, daß die Fluth auch ihn und seine Lasten tragen werde, that er den ersten Schritt zu einem

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Verkehre, welcher seine zahllosen Arme rund um den Erdball schlingt und die entlegensten Fernen mit einander verbindet.

Von dem einfachen Flosse bis zum ausgehöhlten Kahne, dem gezimmerten Boote weiträumigen Schiffe war der Sprung nicht zu groß. Der Fisch mit seinen Flossen wurde ihm zum Modell für Ruder und Steuer, vom Nautilus lernte er das Segeln, und nun es auf diese Weise ermöglicht war, die Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung nach Belieben zu verändern, durfte es der schwache Mensch wagen, den Kampf mit den Wogen und Winden des Meeres aufzunehmen.

Dem Verkehre zu Lande gelang es nicht, mit solcher Raschheit vorwärts zu dringen. Der Nomad veränderte zwar seinen Aufenthalt, so oft es seinen Heerden an der nöthigen Weide gebrach, aber er kehrte doch immer wieder an diejenigen Orte zurück, welche ihm als fruchtbar bekannt waren; er fühlte keinen Bedarf nach Straße, und die Wasserwege legten ihm Schwierigkeiten entgegen anstatt seinen langsamen Zügen förderlich zu sein. Er bewegte sich im offenen Lande, und wo sich ihm der Wald oder das Gebirge entgegenstellte, kehrte er wieder um.

Der Jäger war der Erste, welcher in die Urwildnisse eindrang und von seinem Muthe sich in unbekannte und also gefahrdrohende Gegenden führen ließ. Kehrte er zurück, so rühmte er sich der ausgeführten Großthaten und erregte dadurch die Lust Anderer, ein Gleiches zu thun. Jetzt verbanden sich Mehrere zu weiten Zügen, um Abenteuer aufzusuchen; die gangbarsten Stellen der Wälder wurden gefunden, die Pässe, welche über die Gebirge führten, entdeckt und dadurch Raub- und Kriegszüge vorbereitet, durch welche die geographische Kenntniß der Binnenländer ihre erste Verbreitung erhielt. Ist es doch heut' noch eine der ersten Aufgaben des Feldherrn, diejenigen Länder genau zu studiren, gegen welche sich seine Operationen richten, und vor allen Dingen für gute und genügende Wege zu sorgen, auf welchen seine Truppen sich bewegen können.


Ende des achtzehnten Teils – Fortsetzung folgt.



Karl May: Geographische Predigten

Karl May – Leben und Werk