6.
Strom und Straße.
»Ein friedlich Regiment und eine freie
Bahn
Für Alles, was der Mensch gebraucht und schafft,
Das ist es, was der Völker Wohlfahrt gründet.«
Als der Herr der Schöpfung dem Menschen jenen herrlichen Garten baute, in
welchem er die ersten Tage seines Daseins in stiller Sammlung verbringen
sollte, um sich auf eine thatenreiche und arbeitsvolle Zukunft
vorzubereiten, durfte unter den hörbaren Lauten des jungen Erdenlebens
auch das Murmeln der Quelle, das Plätschern der Welle, das Brausen des
Falles und das Rauschen der Woge nicht fehlen. Und zwar war es nicht der
Zweck der Bewässerung allein, welchem die vier Ströme Pison, Gihon,
Hidekel und Phrat ihr Entstehen verdankten, sondern das Wasser hat in
Beziehung auf den Menschen noch eine andere, eine höhere, man möchte fast
sagen eine erziehliche Aufgabe zu lösen.
»Vom Wasser haben wirs gelernt,«
singt der wandernde Müllerbursche, wenn er die Gründe aufzählt, die ihn
aus der Heimath in die Fremde geführt haben:
»Das hat nicht Ruh bei Tag und Nacht,
Ist stets auf Wanderschaft bedacht,«
und wer an sich selbst den eigenthümlichen Einfluß empfunden hat, welchen
das rastlos zum Meere eilende Element auf das empfängliche Gemüth
hervorbringt, dem wird der Glaube an jene Aufgabe nicht schwer werden.
Stellt man sich auf eine Brücke und blickt senkrecht hinunter auf die
vorüber eilenden Wellen, so scheint es, als ob das Wasser stehe, während
man selbst sich in Bewegung befinde, und recht gut kann man, ohne
lächerlich zu sein, diese optische Täuschung zu einem Hinweis machen auf
das Sehnen nach der Ferne, mit welchem der Gott der Gewässer die seinem
Walten Lauschenden gefangen nimmt.
Der erste Mensch nahm nach seinem Erwachen zum Selbstbewußtsein eine
reiche Menge von Gegenständen wahr, durch deren Betrachtung er seine Sinne
schärfen und sein Urtheil üben sollte. Die erste Frage, welche er sich
stellte, war auf das Wesen dieser Dinge gerichtet, dann aber folgte sofort
das Verlangen, ihren Ursprung kennen zu lernen. Lange Zeit hat wohl das
paradiesische Elternpaar am Ufer des Flusses gestanden, um Räthsel zu
ergründen, welche uns schon seit Jahrhunderten zur offenbaren
Alltäglichkeiten geworden sind. Je schwieriger ihrem einfachen und
ungeübten Verstande die Lösung wurde, desto mehr hofften sie dieselbe in
der Richtung zu finden, aus welcher die Wasser kamen, und so richteten sie
ihre Schritte stromaufwärts, bis sie an der Quelle standen und das Räthsel
ihnen immer noch Räthsel blieb.
Der forschende Geist kennt keine Ruhe, keinen Stillstand. Thürmt sich ihm
ein unüberschreitbares Hinderniß entgegen, so sucht er in andrer Richtung,
in andrer Weise sein Ziel zu erreichen. »Das Wasser lockt, die Welle
zieht,« heißt es im alten Fischerliede; die flimmernden Strahlen, welche
von Streif zu Streif hüpfen, das gesprächige Plätzschern und
geheimnisvolle Flüstern an den Ufersäumen, das unaufhaltsame
Vorwärtsdrängen der wechselvollen und doch ewig gleichbleibenden Massen,
deren Tiefe der Fuß des Unerfahrenen nur zaudernd und zitternd sucht, das
spurlose und keine Wiederkehr findende Verschwinden der sich
vorüberwälzenden lebenspendenden und doch mit dem Tode drohenden Materie
richtet den Flug der Phantasie in das Weite und läßt sie dort die
Erklärung des Wunders suchen, welches seine Geburt dem Schooße der Erde,
seine Verbreitung dem Gesetze der Schwere und sein stetes Fortbestehen dem
Wechsel der Temperatur verdankt.
Fort also, den Wellen nach, immer dem Laufe des Baches, des Flusses, des
Stromes entlang bis an die Küsten des nimmersatten, durstigen Meeres
wanderte der Mensch, den Lockungen der Nixen und Wassernymphen folgend,
denen er sich nicht entziehen konnte. Aber diese Wanderung war nicht in
Tagen und Wochen vollendet, sondern sie bedurfte langer Jahresreihen und
wurde von zahlreichen Ruhepunkten unterbrochen. Der Sterbliche wollte das
Verborgene erkennen, er wollte, wie die Bibel sich ausdrückt, »sein wie
Gott;« deshalb mußte er den engen Horizont seiner ursprünglichen Heimath
erweitern, mußte das Unbekannte suchen, nachdem er das Bekannte erforscht
und begriffen hatte, mußte die Erde mit all' ihren Erscheinungen, Gesetzen
und Kräften geistig zu erobern suchen, und ward also von dem Engel mit dem
flammenden Schwerdte, von der ihm gewordenen Mission aus dem Paradiese
getrieben.
Als er an dem Meere ankam, war er gewachsen, war zum Volke geworden, hatte
gelernt, sein persönliches Wohl mit demjenigen der Gesammtheit seiner
Brüder zu vereinigen und die Bedingungen zu suchen, von deren Erfüllung
dieses Wohl abhängig war. Vor allen Dingen aber hatte er eine werthvolle
Erfahrung gemacht, nämlich die, daß die Natur ihm in dem Laufe der
Gewässer die besten, kürzesten und bequemsten Straßen bot, welche für die
wirthschaftliche und politische Entwickelung seiner Nachkommen unbedingt
nöthig waren.
Je mehr die Zahl der Seinen wuchs, desto mehr wuchs in ihnen der Drang
nach Ausbreitung über die Erde. Die Gebirge mit ihren Felsenriesen, die
Wälder mit ihrer undurchdringlichen Wildniß, die Wüsten mit ihren
todesstarren Strecken stellten dieser Ausbreitung noch unbesiegbare
Hindernisse entgegen, die fließenden Wasser aber durchbohrten diese
Felsenketten, durchbrachen diese Wildnisse, belebten diese Wüsten und
luden ihn also ein, treue Kameradschaft mit ihnen zu halten. Und als er
dann den ersten schwimmenden Baumstamm gesehen und daraus den Schluß
gezogen und zur Anwendung gebracht hatte, daß die Fluth auch ihn und seine
Lasten tragen werde, that er den ersten Schritt zu einem