Nummer 30 Schacht und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.

Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden, Jagdweg 14.

Geographische Predigten.

von Karl May.
25. März 1876


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5.
Mensch und Thier.

(Fortsetzung.)

Auch die Thiere sind auf einander angewiesen; auch bei ihnen gewährt die Bildung von Gesellschaften entweder den besten Schutz gegen störende und vernichtende Natureinflüsse oder eine nothwendige Voraussetzung der Lösung derjenigen Aufgabe, welche ihnen im großen Haushalte der Natur zuertheilt worden ist. Diese Gesellschaften sind kleinere oder größere, je nach der Verschiedenheit der Triebe, von denen sie hervorgerufen wurden, und der äußeren Verhältnisse, unter denen sie sich entwickelten. Auch ihre Dauer ist dem Wechsel unterworfen und ihre Art und Weise eine so unendlich mannigfaltige, daß sie dem Beobachter ein reiches Feld der interessantesten Beobachtungen bietet.

Unter den gesellschaftlichen Trieben stehen der Fortpflanzungs- und der Wandertrieb oben an. Der erstere führt die einzelnen Individuen einander zu und binden sie entweder für eine nur kurze, oft aber auch für eine längere Dauer, zuweilen sogar für die ganze Lebenszeit. Während die Geschlechter gewisser Thierarten sich nur zu ganz bestimmten Zeiten suchen und einander dann fliehen oder wohl gar feindlich gegenüber stehen, beobachten wir bei anderen wieder eine ausdauernde und rührende Anhänglichkeit, welche nur durch den Tod oder andere gewaltsame Ereignisse aufgelöst werden kann. Man denke z.B. an die Tauben, bei denen Männchen und Weibchen mit einer Treue zusammenhalten, welche ihren Paarungen den Namen »Ehen« gegeben hat, oder an gewisse Stelzfüßler (Storch etc.), bei denen die eheliche Untreue nach einer vorher erfolgten förmlichen Gerichtsverhandlung sogar mit dem Tode bestraft wird, wie man wiederholt beobachtet hat.

Während die meisten Thiere in Monogamie leben, ziehen andere die von unseren Gesetzgebern angefochtene Vielweiberei vor und liefern uns Beispiele einer Haremswirthschaft, wie sie bei den Völkern des Orientes nicht ausgebildeter gefunden werden kann. Da lebt der »Herr des Hofes,« der »hellkrähende,« mit seinen Favoritinnen in einer ewigen Flitterwochenzeit und gebietet als unumschränkter Sultan oder Schah - hin - Schah über das Wohl und Wehe seiner scharrenden, kratzenden, gluchsenden und gackernden Zuleiken und Fatimen. Besonders hegt die Ordnung der Hühner, Schwimm- und Wasservögel mit allen ihr Zugehörigen eine sehr ausgeprägte Sympathie für diese türkischen Zustände, denen der eieressende Mensch die Reichlichkeit eines seiner liebsten und nahrhaftesten Genußmittel verdankt.

Der Wandertrieb greift weiter und vereinigt die Individuen und Ehen zu Horden, welche als fliegende Geschwader, galoppierende Kosakenpulke oder wandernde Zigeunerschaaren entweder der besseren Weide oder einer reichlicheren Tränke, meist aber der Wärme nachgehen, welche ihnen die südlicher gelegenen Länderstriche gewähren. Er liegt ebenso tief in der Natur wie der Geschlechtstrieb und macht sich mit einer Regelmäßigkeit geltend, daß man für gewisse Gegenden unter Berücksichtigung der jeweiligen Witterungsverhältnisse den Aufbruch der »wandernden Gesellen« fast auf den Tag berechnen und vorherbestimmen kann.

Obgleich sich besonders die Vögel, welche man nach der Verschiedenheit der Richtung und des Zieles ihrer Excursionen in Zug- und Strichvögel eintheilt, durch diesen Trieb auszeichnen, finden wir ihn doch auch bei den anderen Classen, von den Säugethieren bis herunter zu den niedrigsten Organismen thätig, und besonders fallen hier diejenigen Wanderungen in das Auge, welche die größeren Vierfüßler vornehmen.

Der nordamerikanische Büffel unternimmt zur Herbst- und Frühjahrszeit Wanderungen, welche Hunderte von Meilen weit gehen und bewegt sich dabei in solchen Massen, daß die Erde unter den stampfenden Tritten der dahinstürmenden Herden, welche nach Tausenden zählen, erzittert. Auch der Mustang, das wilde Pferd der Prairie, wechselt seine Weideplätze und jagt unter donnerndem Hufschlage mit fliegender Mähne und wehendem Schweife zwischen dem Norden und dem Süden in jährlichen Pausen hin und zurück. »Stampedo« nennen die spanisch- sprechenden Amerikaner das dadurch verursachte Getöse, welches, von weitem gehört, dem Rollen des fernen Donners und in größerer Nähe dem Tosen eines schweren Wasserfalles gleicht. Die tolle Truppe rast in stürzender Eile dahin, zerstampft Alles und Jedes, was unter ihre Hufe kommt, und verliert sich, wie ein gespenstisches Phänomen im Dunkel der Nacht, in die Wildnisse der Steppe, dem weiten Schauplatze der stürmenden Jagd. Die afrikanische Gazelle unternimmt Züge, welche diesen Wanderungen ebenbürtig zur Seite stehen, und besonders ist es der Springbock, der in so dichtgedrängten und in Folge des Druckes wehrlosen Schaaren seine weiten Reisen vornimmt, daß die schönen Thiere massenweis mit Prügeln todtgeschlagen werden. Unter den kleineren Landthieren sind es besonders der Flemming und einige Ratten- und Mäusearten, welche oft in gewaltiger Mannhaftigkeit der Wahrheit huldigen: »Wenn Jemand eine Reise thut, so kann er 'was erzählen;« die großartigsten Züge aber gehen in den Tiefen des Meeres vor sich. Hier genügt es, nur auf den Hering zu deuten, welcher von seiner Wanderlust zu Millionen und aber Millionen in die Netze der Fischer getrieben wird. Auch der riesigste Bewohner, der Wal, unternimmt bedeutende »Stromfahrten«; man hat den Potwal oder Cachelot in Schaaren von 5 bis 600 in den äquatorialen Gewässern gesehen, und ein solcher Zug gehört zu dem Großartigsten, was das Auge zu sehen vermag. Als ein Beispiel aus der Insectenwelt möge die Wanderheuschrecke erwähnt sein, deren gefräßige Wolken da, wo sie auffallen, einer jeden Vegetation die sicherste Vernichtung bringen.

Die liebenswürdigsten unter all' den wanderlustigen Geschöpfen sind unsere gefiederten Freunde, deren Scheiden wir stets mit Wehmuth bemerken und deren Kommen stets ein

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freudiger Gruß entgegentönt. Sie beleben die Zinnen unsrer Thürme, die Giebel und Firsten unserer Häuser, die Bäume und Sträucher unserer Gärten und Wälder und gehören mit solcher Nothwendigkeit in unsere Städte-, Dorf- und Flurenbilder, daß wir sie gar nicht missen können. Der schwatzhafte, liebesselige Staar mit seinen zärtlichen Flötentönen begleitet bei uns das erbliche Amt eines Garteninspectors, die blitzesschnelle Schwalbe producirt sich als Voltigeur und Lufttausendkünstler, der liebe Storch dient sehr geheimen Familienzwecken, sie alle, alle sind uns an das Herz gewachsen und dürfen fest auf die Gastfreundlichkeit des Gebildeten und Naturfreundes rechnen, wenn auch der Gourmand eines eingebildeten Gaumenkitzels wegen die von ihnen empfangenen Wohlthaten mit dem schwärzesten Undanke belohnt und die liebenswürdigen Sänger so rücksichtslos, so ordinär, so profan - verspeist.

Wohl zu unterscheiden von den beiden genannten ist der politische, der echte Gesellschaftstrieb, welcher Stämme und Völker schafft und diese Verbindungen unter Gesetze stellt, nach denen das Ganze als ein wirklicher und geordneter Staat geleitet und regiert wird. Auch hier giebt es Monarchieen und Republiken, wie in der bösen Menschenwelt, wenn es auch die Forschung erst noch entdecken soll, ob sich die öffentliche Meinung auch wie hier in eine gemäßigte und radicale, in eine rechte und linke, in eine conservative und social-demokratische scheidet. Wir finden das menschliche Leben und Treiben in der Welt der Thiere zuweilen so überraschend vorgebildet, daß es gar nicht zu verwundern wäre, wenn die Bienen, Wespen, Ameisen, Termiten, Prairiehunde und Biber auch ihre Bebel's und Liebknecht's, ihre Lasker's und Windhorst's, ihre Beust's und Bismarck's hätten. Wer ein solches Völkchen, z.B. einen Ameisenstaat genau beobachtet, wird Gelegenheit haben, immer neue Merkwürdigkeiten zu entdecken, welche ihn unwillkürlich zu Vergleichen nöthigen. Die mannbare und wehrhafte Ameise gleicht dem alten römischen Bürger, welcher mit dem Schwerdte in der Faust den Beschäftigungen des Friedens nachging und jederzeit bereit war, das Acker- mit dem Schlachtfelde zu vertauschen. Sie führt eine wohleingerichtete Ackerwirthschaft, durch welche sie sich mit den zartesten und wohlschmeckendsten Vegetabilien versorgt und hält sich einen Stall voll der besten Milchkühe, mit deren honigsüßem Ertrage sie sich nach des Tages Last und Hitze erfrischt. Die Blattlaus ist das Melkthier der Ameise; sie wird von ihrer Herrin »eingestellt«, gefüttert, getränkt, gereinigt und gestriegelt und hat für diese sorgsame Pflege nichts weiter zu thun, als jenen süßen Saft auszuschwitzen, welchen die Ameise so vorzüglich schmackhaft findet. Eine nie ruhende Industrie hat in jedem solchen Baue, der von Außen ein bloßer Schmutzhaufen zu sein scheint, ihre Stätte aufgeschlagen und wird unterstützt durch eine bis in das Kleinste gehende Ordnung, welche das Wohlbefinden eines jeden einzelnen Thierchens auf eine wahrhaft beispielswürdige Weise berücksichtigt. Was Wunder, daß die Ameise ihr theures Heim mit allen Kräften und wahrhaft heldenmäßiger Tapferkeit gegen alle feindselige Invasion zu schützen sucht und lieber den ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfelde stirbt, als sich freiwillig in das Joch der Sclaverei begiebt.

Diese Kriege zum Schutze des Vaterlandes entstammen einem man möchte sagen heiligeren Impulse, als die Turniere, welche viele der höheren Thiere zur Zeit der Paarung unternehmen, und sicheren den kleinen Patrioten die wärmste menschliche Theilnahme. Eigenthümlich ist, daß sich grad' das tiefer gestellte Insectenreich durch diese Völker- und Staatenbildung auszeichnet, während die Zusammenschaarungen höher organisirter Thierwesen des eigentlichen politischen Characters entbehren. Das verwilderte Pferd und Rind lebt in Heerden, der Hirsch, der Wolf in Rudeln, das Walroß wurde zu 2000 Stück beisammen gesehen, der Pinguin bedeckt mit seinen Schaaren meilenlange Küstenstrecken, aber eine so zu sagen staatliche Einigung ist bei ihnen allen nicht vorhanden, ebensowenig wie bei den Thieren der niedrigsten Abtheilung, obgleich viele von diesen, wie wir früher gesehen haben, zu Tausenden von Billionen ein Zusammenleben führen, welches nur durch rein äußerliche Ursachen bedingt ist.

Bei der Beurtheilung des Thierlebens muß der Mensch sich vor einem Fehler hüten, in welchen er gar leicht verfällt, weil er als größester der Egoisten alles Irdische auf sich, auf seinen Vortheil zu beziehen pflegt.

Als »Herr der Schöpfung« trachtet er, sich in ihren vollständigen Besitz zu bringen, leugnet ihren Selbstzweck durch den Eigennutz seines Thuns und verhält sich streng so, als sei alles Irdische in das Dasein gerufen nur für ihn, der als Gebieter nicht inner-, sondern außerhalb der Reiche der lebenden Wesen stehe.


Ende des fünfzehnten Teils – Fortsetzung folgt.



Karl May: Geographische Predigten

Karl May – Leben und Werk