| Nummer
27 |
Schacht
und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.
Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in
Dresden, Jagdweg 14.
Geographische Predigten.
von Karl May. |
4.
März
1876 |
// 213 //
5.
Mensch und Thier.
(Fortsetzung.)
Kaum hat ein Feldmäuslein, eine Eidechse
oder irgend eine Natter die »irdische Bahn vollendet,« so naht der
gelbgestreifte Todtengräberkäfer, um des Amtes zu warten, welches aus
seinem Namen zu ersehen ist. Jedes Wild zieht sich, sobald es den Tod
nahen fühlt, in die tiefste Einsamkeit zurück, um dort in Ruhe zu
verscheiden; ist dies geschehen, so fallen unzählige Wächter der
Gesundheit über die Thierleiche her, um durch die Vernichtung des
faulenden Fleisches den üblen Folgen vorzubeugen. Jedes Wässerlein hat
seine Polizei, jeder Bach seine Krebse, die nur vom Aase leben, jeder Fluß
seine Räuber, die aber nichts weniger als den Galgen verdienen; in den
stehenden See'n und schlammigen Strömen verschlingt das gefräßige
Krokodil, der unersättliche Alligator ungeheure Mengen verwesender Stoffe,
und die Piraten des Meeres, denen die Sorge über das allgemeine
Wohlbefinden anvertraut ist, sind, der Größe ihres Gebietes angemessen,
gar nicht zu zählen.
So hat jedes, auch das kleinste und unscheinbarste, das häßlichste Wesen
seine Bestimmung, um deretwillen ihm der denkende Mensch die wohlverdiente
Achtung zollt. Eine Frage nach der Bestimmung des Thierlebens im Großen
und Ganzen würde eine, ganze Bände umfassende Antwort erfordern, die sich
übrigens dem ernsten und liebevollen Beobachter ganz von selbst an die
Hand giebt. Der Fleischesser, der Gerber, der Schuhmacher betrachtet die
Welt der Thiere von einem sehr materiellen Standpunkte, während der
Künstler durch die Macht der Idee den Stoff zu durchgeistigen weiß. Dem
Forscher aber sind all' die vielen und verschiedenartigen tierischen
Daseinsformen ebenso viele Offenbarungen einer aus dem Staube in das Reich
des Geistes emporführenden Wesenskette, deren jedes einzelne Glied zur
Bildung des Ganzen erforderlich war, und grad so und nicht anders ist, als
es sein Zweck erforderte.
Diese Zweckmäßigkeit leuchtet am deutlichsten aus der Fortpflanzung der
Thiere hervor; Wesen, deren Menge nach dem weisen Haushaltsplane der Natur
so groß sein muß, daß der Mensch sie mit keiner seiner Zahlen zu bestimmen
vermag, zeugen Millionen Nachkommen, obgleich sie vielleicht kaum vom
Aufgange bis zum Niedergange der Sonne leben, während andere, die über ein
Jahrhundert alt werden können, sich so spärlich vermehren, daß
durchschnittlich auf mehrere ihrer Lebensjahre die Erzeugung nur eines
Jungen gerechnet werden darf. Die Ersteren scheinen geboren zu werden,
blos um sich fortzupflanzen und zu vermehren; die Letzteren aber haben
andere und höhere Aufgaben zu lösen, und je mehr das ihnen innewohnende
seelische oder geistige Princip sich entwickelt, desto bedeutender wird
ihre Form, desto geringer ihre Zahl und desto länger die Zeit ihres
Lebens.
Der Seidenwurm legt jährlich bei 500 Eier, die Bienenkönigin bei 40000.
Eine Termitenkönigin wird im Zustande der Befruchtung 2000mal größer im
Umfange, als sie gewöhnlich ist und legt dann innerhalb 24 Stunden 80000
Eier. Im churbraunschweigisch-lüneburgischen Antheile des Harzes wurden im
Jahre 1783 über 3 Millionen Fichten durch den Fichtenborkenkäfer zerstört;
um den Tod nur eines Baumes herbeizuführen, waren an 80000 dieses
schädlichen Insectes thätig, also wurde die angerichtete Verwüstung durch
über 240000 Millionen Käfer hervorgebracht. Ein Häring trägt über 20000,
ein Karpfen über 30000 Eier; in einer einzigen Auster hat man über 3
Millionen Eier gezählt; ein Paar des höhlengrabenden Kaninchens kann sich
unter günstigen Umständen binnen 4 Jahren auf 1200000 Stück vermehren; ein
Paar Feldmäuse vermag es in der Zeit nur eines Jahres auf 20000 zu
bringen, und auch die Vermehrung der Ratten ist eine so bedeutende, daß
sie besonders in großen Haupt- und Hafenstädten zur wahren Plage werden.
Besonders berühmt ist in dieser Beziehung Paris, wo in jedem Jahre zur
Winterszeit die großartigsten Jagden angestellt werden und man alsdann
wohl in einer einzigen Nacht 50000 tödtet. Auch der in dieselbe Classe der
Nagethiere zählende Prairiehund vermehrt sich in so außerordentlicher
Weise, daß im Flußgebiete des Colorado ein Reisender volle drei Tage
brauchte, um eine Ansiedelung dieser Thiere zu passiren. Sie hatte eine
Länge von 15 und eine Breite von 8-9 deutschen Meilen und enthielt
mindestens 30 Millionen Bewohner.
Diese Vermehrung steht stets im gleichen Verhältnisse mit dem Nutzen und
im ungleichen mit der Schädlichkeit der Thiere, obgleich zuweilen das
Gegentheil der Fall zu sein scheint. Der Seidenwurm, die Biene, der Häring
u.s.w. müssen eine so außerordentliche Fruchtbarkeit besitzen, weil ihr
Zweck es erfordert. Häringe werden jährlich über 1200 Millionen gefangen,
und wie viel braucht wohl ein Walfisch von diesen Thieren, um sich zu
sättigen? Dafür erscheinen sie eben auch in Zügen, die oft 3 deutsche
Meilen lang, 2 Meilen breit, bis 200 Klaftern tief und so dicht sind, daß
ein Fisch an und auf dem anderen liegt. Wie könnte ferner allein die
Bewohnerschaft Londons jährlich 110 Millionen Stück Austern verspeisen,
wenn diese Muschel nicht eine so ungeheure Vermehrungsfähigkeit besäße,
und ebenso ist es mit den Kaninchen, von welchen allein Ostende
allwöchentlich bis gegen 100000 Stück in die Londoner Küchen liefert.
Das Krokodil, welches oft eine Länge von 30 Fuß erreicht und mehr als 100
Zähne im Rachen trägt, legt jährlich mehr als 100 Eier; aber diese werden
bald von feindlichen Thieren zerstört, sodaß die Vermehrung des
furchtbaren Thieres nicht zu groß werde. Löwen und Tiger hausen einsam in
ihren Wüsten und Dschungeln, und Geier und Adler schweben vereinzelt in
den Lüften. Je schädlicher ein Thier, desto schwieriger ist seine
Vermehrung; es ist an ein bestimmtes Klima gebannt, während das nützliche
Geschöpf dem Menschen in alle Zonen zu folgen vermag.
// 214 //
Und wie in der Fortpflanzung, so tritt uns in dem Baue, in dem ganzen Leben
jedes einzelnen Thieres die Mahnung entgegen, die göttliche Allmacht und
Weisheit zu bewundern.
Wie leicht wird das riesigste Thier von einem Zufalle, einem kleinen Feinde,
einer Krankheit niedergestreckt, während ein scheinbar schwaches und
widerstandsloses Wesen die höchste Lebenszähigkeit entwickelt! Die Schnecken
z.B. scheinen nur aus einem zerfließenden Schleime zu bestehen, aber nicht
nur ersetzen sich bei vielen von ihnen die abgeschnittenen Theile wieder,
sondern aus jedem losgerissenen Stücke wird ein eigenes, selbstständiges und
sinnreich gebautes Thier, wie das bei dem Seesterne der Fall ist, an dem man
über 80000 Gelenke gezählt hat. Will unsere gewöhnliche Schnecke einer
anderen ihre Zuneigung zeigen, so schießt sie ihr einen kleinen,
vierschneidigen Pfeil entgegen oder drückt ihr denselben in die Brust.
Dieser Amorspfeil ist von kalkartigem Stoffe und steckt sehr lose in einer
beutelartigen Höhle am Halse. Erst nachdem diese Liebesaufforderung
verschossen ist, nähern sich die beiden Thiere einander zur Begattung.
Wer lehrt die junge Spinne ihr zartes Werk schaffen, von welchem 4000 Fäden
erst so dick sind wie 3 Fäden einer ausgewachsenen Spinne? 4000000000000
Fäden einer jungen Spinne haben noch nicht die Dicke eines Menschenhaares!
Die Farbe eines Schmetterlings besteht aus Schuppen, die wie die Ziegel
eines Daches über einander liegen; auf jedem Quadratzolle sind 14400000
solcher Schuppen vorhanden. Jedes Auge eines Schmetterlings besteht wieder
aus über 15000 Linsen, wovon jede die Kraft eines besonderen Auges besitzt.
Und dieses Wunderwerk wird während eines Augenblickes durch den Schnabel
eines Vogels zerstört! Eben solche Facettenaugen hat auch die Fliege, von
welcher wir allein in Europa 1700 Arten kennen.
Der Condor, welcher mit ausgespannten Flügeln 12 Fuß mißt und wie ein König
in den Lüften herrscht, horstet 10 bis 15000 Fuß hoch in den Felsen der
Anden, und doch thut es ihm der winzig kleine Kolibri gleich, der ihm bis zu
einer Höhe von 10000 Fuß folgt. Wunderbar ist die Regelmäßigkeit, mit
welcher die Streich- und Zugvögel ihren Standort wechseln. Die Schwalben
kommen in Würtemberg um den 8., in Berlin um den 18., im mittleren Dänemark
um den 29., in Königsberg um den 31. April und in Kopenhagen um den 5. Mai
von ihrer Wanderung zurück. Jede von ihnen kennt ihre Heimath und ihr Nest
ganz genau, und so ist es mit' all unseren gefiederten Freunden, welche uns
auf einige Zeit verlassen, um die Wärme des Südens aufzusuchen. Aber auch
bei niedrigeren Thieren ist dieser Ortssinn zu beobachten. So wurden bei
Ascension eine 8 Centner schwere Riesenschildkröte gefangen, um lebend nach
Europa gebracht zu werden. Unterwegs erkrankte sie aber und wurde deshalb
angesichts der britischen Küste in das Meer geworfen. Zwei Jahre später fing
man dasselbe Thier bei Ascension wieder; es hatte also den Weg in die 800
Meilen entfernte Heimath wiedergefunden.
Der Bau eines jeden Thieres ist mit weiser Fürsorge für seinen Aufenthalt
und seine Lebensweise eingerichtet. Der Maulwurf, welcher seine
unterirdischen Gänge gräbt, besitzt die dazu nothwendigen Schaufelfüße
ebensowohl, wie der Fregattvogel die, ausgebreitet 14 Fuß klafternden
Flügel, um als kühnster der Segler die Oceane zu überfliegen. Die im grünen
Blätterwerke aus dem Eie gekrochene Raupe, deren einzige Aufgabe in der
Befolgung ihrer Gefräßigkeit besteht, vermag nur kurze Zeit ohne Nahrung zu
bestehen, während das Kameel, für die wasserarme Wüste bestimmt, acht Tage
lang zu dürsten vermag und auch ohne Nahrung eine Zeit lang von dem Fette
seines Höckers lebt. Das Faulthier, gewohnt, die Bäume bis auf den letzten
Rest ihrer genießbaren Theile abzunagen, besitzt in seinen Krallen die
besten Werkzeuge, sich auf ganze Wochen klammernd festzuhalten; die 100
Arten von Affen, deren lebhaftes Temperament sie ohne Ruhe und Rast von
Zweig zu Zweig, von Ast zu Ast treibt, sind mit Händen und Schwänzen
versehen, welche diese Beweglichkeit ermöglichen, und die Antilope, deren
einzige Waffe in der Flucht besteht, vermag mit ihren zierlichen Hufen die
weitesten Strecken in stürmender Eile zu durchjagen. Die Schnecke baut sich
ihren ambulanten Palast, die Termite ihre Volkscaserne, die Biene ihre
zellenreiche Honigfabrik, der Vogel sein kunstvolles Sommerlogis, das
Eichhörnchen seinen luftigen Kober, der Biber seine submarinen
Familienzimmer, der Hamster seine unterirdischen Vorratskammern, der Fuchs
sein Malepardus, der Bär seinen Rheumatismuskeller, und wer zu bequem ist
oder es vergessen hat, bei Mutter Natur einen architectonischen Cursus zu
nehmen, der schmeichelt sich in die Gewogenheit des Menschen ein, der ihm
entweder eine weiche Sophaecke vermiethet oder einen Kunstpavillon mit der
Firma »Villa Staar« zur Verfügung stellt.
Die Farbe der Thiere wird nicht vom Zufalle bestimmt, sondern auch in ihr
offenbart sich das Walten einer gütigen Vorsehung, welche durch den Einfluß,
den sie der rein äußeren Welt auf die Gestaltung und Ausstattung selbst des
organischen Lebens erlaubt, ihren Geschöpfen die freundlichsten Vortheile
bietet. Die Raupe und der Schmetterling, sie tragen beide die Farbe der
Pflanzentheile, von welchen sie vorzugsweise ihre Nahrung nehmen, und sind
auf diese Weise dem oberflächlichen Blicke ihrer zahlreichen Feinde
entzogen. Aus eben diesem Grunde haben die Tagfalter eine helle, die
Dämmerungs- und Nachtfalter eine düstere Färbung. Wenn sich die Lerche, das
Rebhuhn eng an die Scholle des Ackerfeldes schmiegt, so kann selbst das
scharfe Auge des Falken sie kaum von dem Boden unterscheiden. Das Gesetz der
Farbenharmonie zieht sich durch die ganze irdische Schöpfung. Da die
Pflanzenwelt der tropischen Zone eine in den reichsten Nuancen schillernde
und flimmernde ist, so ist auch das Thierreich dort durch seine
farbenprächtigsten Exemplare vertreten, während die Zahl und Lebhaftigkeit
der Farbentöne sich je weiter nach dem Norden, desto mehr vermindert. Und
nicht etwa blos die kleineren Thiere stehen unter dieser Farbenabhängigkeit,
sondern wir haben selbst unter den größesten der Säugethiere die
auffälligsten Beispiele. Der nordamerikanische Bison mit seiner
schmutzig-dunklen Färbung paßt ganz vortrefflich in die vom Pfluge noch
unberührten Ebenen des »dark and bloody ground«, des finstern und
blutigen Bodens, wie der Yankee die Prairie nennt, während der Jak oder
Grunzochs Innerasiens neben dem Braun des sonnverbrannten Niederlandes auch
die Farbe des ewigen Schnee's an sich trägt, zu welchem er in die Berge des
Himalaya emporsteigt. Der Bär der gemäßigten Zone sieht schwarz, braun oder
grau, der Eisbär aber trägt das verunreinigte Weiß, welches den Schnee- und
Eisfeldern des Nordens eigenthümlich ist.
Ende des zwölften Teils –
Fortsetzung folgt.
Karl May: Geographische Predigten
Karl May – Leben und
Werk