5.
Mensch und Thier.
»Herr, wie sind Deine Werke so groß;
Deine Gedanken sind so sehr tief!«
Psalm 92, 6.
Nicht zufällig stellt der Psalmist in diesem Worte die Begriffe »Werk« und
»Gedanke« neben einander; denn während bei dem Menschen das Denken dem
verständigen Wirken vorangeht und es begleitet, muß jeder Gedanke der
göttlichen Allmacht sofort Gestalt und Wesen annehmen und als
Erschaffenes, als Creatur sich offenbaren.
Die Gesetze, Kräfte und Erscheinungen der Natur sind nichts Anderes, als
in die Zeitlichkeit getretene Gedanken des Ewigen, durch eine unfehlbare
und allweise Logik zu einer Predigt verbunden, welche ebensowohl den
strengen Ernst einer allwaltenden Gerechtigkeit, wie das Evangelium einer
unendlichen Liebe verkündigt. Diese wunderbare Logik zeigt sich als eine
lückenlose und Stufe für Stufe fortschreitende Entwickelung des nächst
Höheren und Vollkommeneren aus dem vorangehend Niederen, aber seinem
Zwecke vollkommen Entsprechenden, und wo das schwache Auge des Sterblichen
eine Lücke in der Kette der Schöpfung zu gewahren vermeint, da thut sich
dem späteren und schärferen Blicke das Geheimniß kund, daß die Woche des
Schaffens noch nicht bis zu dem siebenten Tage, dem großen Sabbathe der
Ruhe vorangeschritten sei.
Jede höhere Stufe kennzeichnet sich durch eine größere Selbstständigkeit
des Lebens, eine vermehrte Freiheit der Bewegung und eine immer deutlicher
ausgesprochene Individualität (Persönlichkeit).
Das erste Lebenszeichen unseres Planeten bestand in der durch elementare
Bewegungen hervorgebrachten Bildung und Gestaltung der Erdmasse. Wir haben
diesem gewaltigen Gähren und Treiben nicht beigewohnt; aber wir sehen es,
zu Stein erstarrt, seine Felsenwogen aus der Tiefe emportragen und
erkennen in jeder Anschwemmung oder Ablagerung des irdischen Stoffes und
jeder metallischen oder krystallinischen Erscheinung den wahrheitstreuen
Zeugen einer Jahrmillionen umfassenden Entstehungsperiode. Die hierbei
thätigen Urgewalten arbeiten noch heut an der Umgestaltung des Stoffes,
und die allmälig aber sicher vor sich gehende Veränderung der
Erdoberfläche giebt in einer ununterbrochenen Bewegung den Beweis, daß
fortwährendes und bis heut' noch nicht erloschenes Leben selbst die starre
und an sich todte Materie beherrsche.
Diese unselbstständige Bewegung, dieses willenlose Leben des Unorganischen
gewinnt immer wachsende Freiheit erst im Reiche der organischen Körper,
welche bis hinauf zum Menschen einen immer bestimmter erkennbaren
persönlichen Character zur Geltung bringen.
Die Pflanze hat sich mit den edleren und feineren ihrer Glieder schon von
der Erde losgerissen. Zwar kriechen ihre niederen Gattungen und Arten noch
am Boden hin, aber die höheren streben kühn empor zum Sonnenlichte und
zahlen nur im Blätterfalle dem Boden, welcher sie tyrannisch an den
Wurzeln hält, den schuldigen Tribut.
Auch einige der untersten thierischen Wesen vermögen der Erde noch nicht
zu entfliehen, aber während selbst den freien Theilen der Pflanze jede
Willkür mangelt, ist ihnen schon diejenige Selbstständigkeit der Bewegung
geschenkt, welche ihnen erlaubt, dem Instincte der Erhaltung und
Vermehrung zu folgen. Und in diesem Instincte ist dasjenige unbestimmbare
Prinzip zu erkennen, welches sich durch seine Herrschaft über den Körper
später als thierische Seele offenbart und als Geist im Menschen die
höchste Stufe seiner Entwickelung erreicht.
Der Uebergang aus dem Pflanzenreiche in das Thierreich ist nicht ein
plötzlicher und unvorbereiteter, sondern wie wir gesehen haben, daß es
Pflanzen giebt, die ein Wachen und Schlafen, ja sogar eine Empfindung zu
haben scheinen, so giebt es auch Thiere, welche wachsen und sich
vervielfältigen wie die Pflanzen, Thiere, die man lange nur für Pflanzen
gehalten hat und die es in der That doch nicht sind. Aber ist dieser
Uebergang einmal geschehen, so eilt die Organisation auch mit raschen
Schritten durch die zahlreichen Classen der animalischen Welt bis an jene
Grenze, an welcher die Wissenschaft die Frage aufwirft: »Nun sage, Mensch,
woher Du stammst!«
So stolz wir selbstgefälligen Menschenkinder auf unsere wissenschaftlichen
Eroberungen sein zu müssen glauben, es ist doch nur eine geringe Tiefe,
bis zu welcher wir in den »Reichthum beides, der Weisheit und Erkenntniß
Gottes« eingedrungen sind. Während das Große, das Augenfällige zumeist und
vor allen Dingen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, vollziehen sich
in unserer unmittelbaren Nähe, ja an uns selbst, tausend Wunder, welche
wir nicht beachten, weil sie uns alltäglich erscheinen oder zu ihrer
Betrachtung einer Bewaffnung unserer Sinneswerkzeuge bedürfen. Und doch
ist das Kleine im Haushalte der Natur von unendlich höherer Bedeutung als
das Große; denn das Letztere baut sich aus dem Ersteren auf und entnimmt
nur ihm die Mittel seines Fortbestandes.
So auch im Leben der Thiere.
Elephanten, Nashörner, Flußpferde, Löwen, Tiger, Riesenschlangen,
Krokodile, sie, die Riesen und »Helden« des Thierreiches, sind aller Welt
bekannt, und hunderte von Menagerien und zoologischen Gärten bemühen sich,
die Kenntniß über sie zu verbreiten, aber
»der Käber und dat Würmelein«
und all' die »Thierikens«, deren Dasein nur mittelst der Loupe zu
bestimmen ist, finden wenig Gnade vor den Augen des großen Publikums,
obgleich auch hier die Behauptung gilt, daß das »schlichte Heldenthum« oft
höheren Werth in sich berge, als die »große Reckenthat.« Was ist die Kraft
des