Nummer 26 Schacht und Hütte.
Blätter zur Unterhaltung und Belehrung
für
Berg - Hütten - und Maschinenarbeiter.
1. Jahrg.

Redaction, Druck und Verlag von H. G. Münchmeyer in Dresden, Jagdweg 14.

Geographische Predigten.

von Karl May.
26. Februar 1876


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5.
Mensch und Thier.


»Herr, wie sind Deine Werke so groß;
Deine Gedanken sind so sehr tief!«
                                        Psalm 92, 6.


Nicht zufällig stellt der Psalmist in diesem Worte die Begriffe »Werk« und »Gedanke« neben einander; denn während bei dem Menschen das Denken dem verständigen Wirken vorangeht und es begleitet, muß jeder Gedanke der göttlichen Allmacht sofort Gestalt und Wesen annehmen und als Erschaffenes, als Creatur sich offenbaren.

Die Gesetze, Kräfte und Erscheinungen der Natur sind nichts Anderes, als in die Zeitlichkeit getretene Gedanken des Ewigen, durch eine unfehlbare und allweise Logik zu einer Predigt verbunden, welche ebensowohl den strengen Ernst einer allwaltenden Gerechtigkeit, wie das Evangelium einer unendlichen Liebe verkündigt. Diese wunderbare Logik zeigt sich als eine lückenlose und Stufe für Stufe fortschreitende Entwickelung des nächst Höheren und Vollkommeneren aus dem vorangehend Niederen, aber seinem Zwecke vollkommen Entsprechenden, und wo das schwache Auge des Sterblichen eine Lücke in der Kette der Schöpfung zu gewahren vermeint, da thut sich dem späteren und schärferen Blicke das Geheimniß kund, daß die Woche des Schaffens noch nicht bis zu dem siebenten Tage, dem großen Sabbathe der Ruhe vorangeschritten sei.

Jede höhere Stufe kennzeichnet sich durch eine größere Selbstständigkeit des Lebens, eine vermehrte Freiheit der Bewegung und eine immer deutlicher ausgesprochene Individualität (Persönlichkeit).

Das erste Lebenszeichen unseres Planeten bestand in der durch elementare Bewegungen hervorgebrachten Bildung und Gestaltung der Erdmasse. Wir haben diesem gewaltigen Gähren und Treiben nicht beigewohnt; aber wir sehen es, zu Stein erstarrt, seine Felsenwogen aus der Tiefe emportragen und erkennen in jeder Anschwemmung oder Ablagerung des irdischen Stoffes und jeder metallischen oder krystallinischen Erscheinung den wahrheitstreuen Zeugen einer Jahrmillionen umfassenden Entstehungsperiode. Die hierbei thätigen Urgewalten arbeiten noch heut an der Umgestaltung des Stoffes, und die allmälig aber sicher vor sich gehende Veränderung der Erdoberfläche giebt in einer ununterbrochenen Bewegung den Beweis, daß fortwährendes und bis heut' noch nicht erloschenes Leben selbst die starre und an sich todte Materie beherrsche.

Diese unselbstständige Bewegung, dieses willenlose Leben des Unorganischen gewinnt immer wachsende Freiheit erst im Reiche der organischen Körper, welche bis hinauf zum Menschen einen immer bestimmter erkennbaren persönlichen Character zur Geltung bringen.

Die Pflanze hat sich mit den edleren und feineren ihrer Glieder schon von der Erde losgerissen. Zwar kriechen ihre niederen Gattungen und Arten noch am Boden hin, aber die höheren streben kühn empor zum Sonnenlichte und zahlen nur im Blätterfalle dem Boden, welcher sie tyrannisch an den Wurzeln hält, den schuldigen Tribut.

Auch einige der untersten thierischen Wesen vermögen der Erde noch nicht zu entfliehen, aber während selbst den freien Theilen der Pflanze jede Willkür mangelt, ist ihnen schon diejenige Selbstständigkeit der Bewegung geschenkt, welche ihnen erlaubt, dem Instincte der Erhaltung und Vermehrung zu folgen. Und in diesem Instincte ist dasjenige unbestimmbare Prinzip zu erkennen, welches sich durch seine Herrschaft über den Körper später als thierische Seele offenbart und als Geist im Menschen die höchste Stufe seiner Entwickelung erreicht.

Der Uebergang aus dem Pflanzenreiche in das Thierreich ist nicht ein plötzlicher und unvorbereiteter, sondern wie wir gesehen haben, daß es Pflanzen giebt, die ein Wachen und Schlafen, ja sogar eine Empfindung zu haben scheinen, so giebt es auch Thiere, welche wachsen und sich vervielfältigen wie die Pflanzen, Thiere, die man lange nur für Pflanzen gehalten hat und die es in der That doch nicht sind. Aber ist dieser Uebergang einmal geschehen, so eilt die Organisation auch mit raschen Schritten durch die zahlreichen Classen der animalischen Welt bis an jene Grenze, an welcher die Wissenschaft die Frage aufwirft: »Nun sage, Mensch, woher Du stammst!«

So stolz wir selbstgefälligen Menschenkinder auf unsere wissenschaftlichen Eroberungen sein zu müssen glauben, es ist doch nur eine geringe Tiefe, bis zu welcher wir in den »Reichthum beides, der Weisheit und Erkenntniß Gottes« eingedrungen sind. Während das Große, das Augenfällige zumeist und vor allen Dingen unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, vollziehen sich in unserer unmittelbaren Nähe, ja an uns selbst, tausend Wunder, welche wir nicht beachten, weil sie uns alltäglich erscheinen oder zu ihrer Betrachtung einer Bewaffnung unserer Sinneswerkzeuge bedürfen. Und doch ist das Kleine im Haushalte der Natur von unendlich höherer Bedeutung als das Große; denn das Letztere baut sich aus dem Ersteren auf und entnimmt nur ihm die Mittel seines Fortbestandes.

So auch im Leben der Thiere.

Elephanten, Nashörner, Flußpferde, Löwen, Tiger, Riesenschlangen, Krokodile, sie, die Riesen und »Helden« des Thierreiches, sind aller Welt bekannt, und hunderte von Menagerien und zoologischen Gärten bemühen sich, die Kenntniß über sie zu verbreiten, aber


»der Käber und dat Würmelein«


und all' die »Thierikens«, deren Dasein nur mittelst der Loupe zu bestimmen ist, finden wenig Gnade vor den Augen des großen Publikums, obgleich auch hier die Behauptung gilt, daß das »schlichte Heldenthum« oft höheren Werth in sich berge, als die »große Reckenthat.« Was ist die Kraft des

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Elephanten, der Muth des Löwen und die Kühnheit des Tigers gegen die Arbeit der kleinen Koralle, welche ganze Inseln und Inselgruppen aus der Tiefe des Meeres emporhebt? Welches andere Thier, und wäre es noch so riesengroß, kann seine Muskelkraft mit derjenigen des Floh's messen, welcher mehrere Hundert mal höher springt, als er selber ist? Selbst der mit 4000 dolchähnlichen Zähnen gespickte Rachen eines Riesenhaifisches muß verlieren bei einem Vergleiche mit den Freßwerkzeugen jener winzig kleinen Insecten, welche sich in die gigantischen Stämme der Deakwälder einbohren und das eisenfeste Holz zu Staub und Mehl zermalmen.

Und von welch hoher Bedeutung sind all die kleinen, mikroskopischen Thierformen, deren Kenntniß wir erst der neueren Zeit verdanken, für die Architektur des himmlischen Baumeisters!

In einem einzigen Tropfen Wasser schwimmen viele Tausende von Infusorien, und das höchste organische Geschöpf, der Mensch, beherbergt in seinen Eingeweiden, in seiner Haut, seinen Haaren, im Schleim, der an seinen Zähnen haftet, in dem Blute, das ihm durch die Adern rollt, unzählbare lebende Wesen. Sein Leib ist für Millionen verschiedener und fast unentdeckbarer Geschöpfe eine große wandelnde Welt, wie der ganze Erdball für die Völker des menschlichen Geschlechtes es ist. Sein Sterben und das Verwesen seines Leichnams ist nur der Augenblick, an welchem sich sein Fleisch und Blut wieder in neue Thierarten verwandelt, und selbst in größere, dem bloßen Auge sichtbare Geschöpfe, deren erste Stoffe, Keime und Eier er in sich getragen, ohne eine Ahnung davon zu haben.

Auf dem Grunde des Meeres und der süßen Gewässer bilden die winzigen Foraminiferen mächtige Ablagerungen; ebenso sind viele ausgedehnte Bodenschichten des Festlandes, zum Theil die festesten Felsen, aus ihnen entstanden. In der Steinkohlenformation Rußlands an den Ufern der Dwina hat man ungeheure Bergkalklager gefunden, welche aus ihnen bestehen. Der Grobkalk des Pariser Beckens, der Kalksand an den verschiedensten Meeren, der Schlamm vieler Häfen, ganze Gebirgsschichten haben sich aus ihnen gebildet. Der nordwestliche Theil von Berlin, die sogenannte Friedrich-Wilhelmsstadt (Louisenstraße, Carlsstraße), steht auf einer Schicht von zum Theil noch lebenden Infusorien, und es ist dadurch der Einsturz mehrerer neugebauter Häuser herbeigeführt worden, weil die Baumeister es versäumt hatten, den Baugrund genau zu untersuchen. Diese Schicht ist 15 bis 100 Fuß mächtig, und welche Menge solcher Thiere zu ihrer Bildung gehörten, läßt sich aus der Angabe ersehen, daß erst 41000000000 einen Kubikzoll Erde bilden. Die nach oben weiße, nach unten graue Erde am Südrande der Lüneburger Haide bei Ebsdorf, 28 Fuß mächtig, das kreideähnliche Gestein bei Jastraba in Ungarn, 14 Fuß mächtig, die Bergmehlschichten bei Bagnola in Toskana, 10 Fuß mächtig, verdanken ihnen ihre Entstehung. Auch die Erde, welche gewisse wilde Völker essen, ist nichts Anderes als Infusorienerde. Sogar in der Luft sind diese Thiere zu finden. Wenn der Seefahrer bei der Rückkehr aus Indien oder vom Cap der guten Hoffnung auf dem Wege nach Europa ungefähr den 20. Grad nördlicher Breite schneidet, so sieht er nicht selten die Segel seines Schiffes sich mit einem feinen Staube bedecken, den er Passatstaub nennt, weil ihn der in diesen Gegenden herrschende Passatwind herbeigeführt hat. Dieser Staub kommt aus Afrika und zeigt sich bei mikroskopischer Betrachtung als nur aus Infusionsthierchen bestehend. Ebenso verhält es sich auch mit derjenigen Erscheinung, welche man Staubnebel, Meteorstaub, Staubregen u.s.w. nennt und auch zuweilen bei uns, mehr aber noch im südlichen Europa bemerkt wird.

Von diesen nur durch das Glas erkennbaren Thieren bis hinauf zu dem oft über 200 Centner schweren Walfische hat ein jedes seine eigene Aufgabe zu erfüllen und kehrt dann wieder in seine Urbestandtheile zurück.

»Wozu sind die Myriaden von häßlichen Würmern, die lästigen Insecten, das schmarotzende Ungeziefer, die schleichenden und reißenden Thiere da, welche mit Wollust in dem Leben ihrer Mitgeschöpfe wühlen?« fragt da der Zweifler oder der Wißbegierige. Alle jene, trotz der vorgeschrittenen Cultur noch so zahlreichen und oft weit ausgedehnten Erdlager, welche der Pflug noch nicht berührte, wären vielleicht schon längst steinartig verhärtet, wenn sie nicht alljährlich durch Legionen von Würmern, Käfern, Schnecken und anderen Thieren durchwühlt und aufgelockert würden. Die unterirdischen, vielfach gewundenen Gänge, Zellen und Behausungen dieser kleinen Geschöpfe sind ebenso viele künstlich gebaute Kanäle, durch welche der befruchtende Regen in den tiefen Grund dringt und die Luft den Wurzeln neue Nahrungsstoffe zuführt. Gott hat Alles weiser geordnet, als der Sterbliche kennt und begreift. Wo der Mensch Störungen seiner eigenen Absichten oder Fehler in der Naturordnung beklagen zu müssen glaubt, ist ihm ohne sein Wissen und Verstehen eine Wohlthat geschehen, deren segensvolle Folgen sich auf die Zeitdauer von vielen Jahren erstrecken, um den etwaigen augenblicklichen Schaden tausendfach zu ersetzen. Ebenso ist der Dank, welchen der Mensch dem sogenannten Ungeziefer und den fleischfressenden Thieren schuldet, kein geringer. Diese Geschöpfe haben im Naturstaate die Sanitätspolizei zu führen. Wo der Mensch durch Nachlässigkeit und Mangel an der nöthigen Reinlichkeit im Begriffe steht, seiner Gesundheit zu schaden, da wird er durch die sofort auftauchenden Wohlfahrtspolizisten gezwungen, das zu thun, was er zu seinem eigenen Schaden unterließ. Ist dieser Zweck erreicht, so verschwinden die kleinen kribbelnden, krabbelnden, zwickenden, stechenden und beißenden Detectives wieder, indem sie das Gelingen ihrer Sendung mit dem Märtyrertod besiegeln. Friede ihrer Asche!

Bei dem endlosen Entstehen und Vergehen im Reiche des irdischen Lebens, vermittelt durch die Prozesse des Verdorrens, Verwittern und Verfaulens, würde sich in kurzer Zeit eine Menge in Auflösung begriffener organischer Körper ansammeln, die in Folge der ihnen entströmenden schädlichen Gase wahre Brutstätten von Epidemieen bilden müßten, deren traurige Folge der Tod alles Lebenden wäre. Hier hat nun die allweise Vorsehung eine außerordentlich zahlreiche Rettungsschaar gebildet, die in den verschiedensten Sectionen eingreifen muß, um dem Verderben rechtzeitig zu steuern. Kaum schmückt das Vermächtniß irgend eines wohlgefütterten Zugthieres die belebte Straße, so kommt der bekannte dickleibige Käfer herbeigesummt und fertigt mit erstaunlicher Geschicklichkeit kleine Kugeln aus dem bildsamen Materiale, um in dieser Form das Anstößige unter die Erde zu bringen.


Ende des elften Teils – Fortsetzung folgt.



Karl May: Geographische Predigten

Karl May – Leben und Werk