Nordamerika und der ›Wilde Westen‹, das Land der Cowboys, Trapper und
Indianer, ist eine Weltgegend, in der der deutsche Leser seit mehr als 100
Jahren besser zu Hause ist als in seiner eigenen Heimat. Fremde Länder
haben immer die Fernensehnsucht verlockt, aber keines in dem Maße wie der
Far West. Unsere Kinder spielen nicht Afrikaner, Chinesen oder
Südseeinsulaner, sondern Indianer; und als es der deutschen Filmwirtschaft
schlecht ging, halfen ihr keine Schicksalsdramen aus dem Bayrischen Wald
oder aus exotischer Tropenhölle, sondern es war die Szenerie des Wilden
Westens, die ihr wieder volle Kassen brachte. Nordamerika zwischen 1700
und 1900 übt eine seit hundert Jahren ungebrochene Faszination aus. Vieles
kommt da zusammen: Der Mythos vom ›edlen Wilden‹, in dem die
antizivilisatorische Kulturkritik ihr ausdrucksstärkstes Bild gefunden hat
und der in der Gestalt des Indianers, wie sie uns die Literatur
überliefert, eine besonders überzeugende Verkörperung findet; das
Bedürfnis, der drückenden Enge des heimatlichen Lebens wenigstens mit
Hilfe der Phantasie in ein Land der Freiheit zu entfliehen, das
menschlicher Bewährung unbegrenzte Möglichkeiten eröffnet; und schließlich
die Tatsache, dass Millionen von Deutschen in den letzten 200 Jahren auch
in der Wirklichkeit nach Amerika ausgewandert sind, dort ihr Glück gesucht
und manchmal auch gefunden haben; es gibt kaum eine deutsche Familie, die
nicht Verwandte ›drüben‹ hätte.
Alle diese Traditionsströme, in denen Dichtung und Wirklichkeit, realitätsabgewandte Sehnsucht und irdisches Glücksstreben eine unlösliche Verbindung eingehen, laufen im Werke Karl Mays zusammen, der wohl nur deswegen aus so heterogenen Elementen eine geschlossene literarische Welt schaffen konnte, weil er die Realität Amerikas nicht aus eigener Anschauung kannte: So konnte der Typus des ›edlen Wilden‹ in der Gestalt des ›Winnetou‹ eine so reine Ausprägung finden, wie sie die Wirklichkeit nie hätte hervorbringen können; so konnte er der materiellen und persönlichen Abhängigkeit des Menschen in der industrialisierten Massengesellschaft den Entwurf eines unabhängigen, selbstgestalteten, naturverbundenen Lebens in einem imaginierten ›Wilden Westen‹ entgegensetzen, der in der Realität denn doch ziemlich anders aussah; und er konnte diese Welt mit so vielen ausgewanderten Deutschen bevölkern, dass der Leser fast geneigt ist, Amerika als eine Provinz des Deutschen Reiches zu betrachten. May hat den überlieferten literarischen Motiven, die er in der deutschen Abenteuerliteratur zur Vollendung und auch zum Abschluss gebracht hat, einen weiteren Topos hinzugefügt: die Schuld der weißen Rasse gegenüber der roten. »Der Weiße kam mit süßen Worten auf den Lippen, aber zugleich mit dem geschärften Messer im Gürtel und dem geladenen Gewehr in der Hand. Er versprach Liebe und Frieden und gab Hass und Blut« (›Winnetou‹, Bd. 1, S. 3). Das Thema des Völkermordes hat seither eine noch schaurigere Aktualität erlangt; wenn sich heute die Anteilnahme der Europäer intensiver als früher den realen Lebensbedingungen der Indianer zuwendet, so wird man Karl May ein Verdienst daran nicht absprechen können.
Gleichwohl: Unsere Anschauung vom Amerika der Pionierzeit ist ganz überwiegend literarisch vermittelt, eine Heldensage mehr als ein historisch beglaubigter Bericht. Eckehard Koch hat es sich zur Aufgabe gemacht, den durchaus vorhandenen Tatsachenkern aus der mythischen Legende herauszuschälen und darzustellen, wie es sich mit den ›Deutschen im Wilden Westen‹ in der Wirklichkeit verhalten hat. Sein Buch füllt eine Lücke auf unserem Büchermarkt insbesondere dadurch, dass der tatsächlich sehr bedeutende Anteil, den deutsche Auswanderer und Reisende an der Erforschung, Besiedlung und Entwicklung Nordamerikas hatten, hier einmal ebenso gedrängt wie umfassend nachgezeichnet wird. Politiker wie Steuben und Schurz, landeskundige Autoren wie Sealsfield, Armand, Gerstäcker und Möllhausen, Reisende wie der Prinz zu Wied sind dem deutschen Publikum dem Namen nach auch heute noch bekannt. Wer sich aber über diese Männer und über zahllose andere deutsche Emigranten, deren Namen heute keiner mehr nennt, die aber als Personen des öffentlichen Lebens oder als Chronisten einen ehrenvollen Platz in der amerikanischen Geschichte behaupten, näher informieren und sie in die historischen Zusammenhänge richtig einfügen will, wird im vorliegenden Buch einen verlässlichen Führer finden. Spezielles Augenmerk hat Koch den Beziehungen zwischen Deutschen und Indianern gewidmet, die nicht selten freundschaftlich gewesen sind und ebenfalls in der Blutsbrüderschaft zwischen Old Shatterhand und Winnetou eine späte literarische Verklärung gefunden haben. Da sich der Anteil der Deutschen aus dem Kontext der amerikanischen Geschichte nicht herauslösen lässt, unterrichtet Kochs Buch gleichzeitig auch über die amerikanische Siedlungsgeschichte im ganzen und über das Schicksal der roten Völker und ihrer bedeutenden Persönlichkeiten. Ich habe das Buch mit Anteilnahme und großem Gewinn an Kenntnissen gelesen: Es ist darin vieles festgehalten, was dem Gedächtnis der Nachwelt nicht verlorengehen sollte. Die vorliegende Internetfassung – das Buch ist vergriffen – wurde vom Autor aktualisiert. Die Wiederveröffentlichung auf diesen Internetseiten soll einem breiten Publikum den wichtigen Themenkomplex ›Deutsche Auswanderer in Amerika‹ näherbringen.
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin,
Ehrenvorsitzender der Karl-May-Gesellschaft, Ehrenkurator der
Karl-May-Stiftung