Damit die Diskussion wieder ernsthafter wird:
Auf meinem persönlichen Glaubensweg spielte die frühe Lektüre Karl Mays eine besondere Rolle. Was in meinen Kindheitsjahren die Reiseerzählungen des sächsischen Fabulierers waren, dürfte in der heutigen Kinder- und Jugendliteratur die Fantasy-Romanserie der Schriftstellerin Joanne K. Rowling sein. Mays exotische Romane wie auch Rowlings Harry-Potter-Bände weisen, hinter der abenteuerlichen Story, eine metaphysische Tiefendimension auf. Mays wie Rowlings Erzählungen suggerieren dem Leser: Es wird alles gut. Selbst der Tod wird am Ende besiegt sein.
»All was well.« So lautet der Schlusssatz des siebenten und letzten Harry-Potter-Buches, das den Titel ›Harry Potter und die Heiligtümer des Todes‹ trägt. All was well. Erinnert das nicht an die biblische Schöpfungsurkunde? Dort heißt es ja: »Gott sah alles an, was er gemacht hatte. Es war sehr gut.« (Gen 1, 31)
»All was well.« Mit diesem provokanten Romanfinale wird eine Sehnsucht angesprochen, die das GANZE der menschlichen Existenz in das Licht einer letzten Hoffnung und eines letzten Gelingens rückt. In ihrer ›Einführung in die christliche Eschatologie‹ bezeichnet die katholische Dogmatik-Professorin Johanna Rahner (nicht zu verwechseln mit ihrem Namensvetter Karl dem Großen

) die Harry-Potter-Bände als eine Romanserie, »die wie wohl kein anderes literarisches Produkt zur Jahrtausendwende das Lebensgefühl der späten Moderne auf den Punkt brachte«.
Das »Lebensgefühl der späten Moderne« scheint mir freilich eher konfus. Doch immerhin: Auch zum heutigen Lebensdrang gehört wahrscheinlich die Sehnsucht nach dem ›ganz Anderen‹, nach dem Geheimnis, dem absoluten Mysterium, das die irdische Ratio übersteigt und den ›Himmel‹ offen hält. Dem Wunschtraum nach Überwindung des Leids und des Todes, der »Recherche nach der verlorenen Liebe« (Wollschläger), dem Bedürfnis nach Initiation, der Suche nach dem großen Wagnis bei gleichzeitiger Transzendenzerfahrung, kommen die Bücher Joanne K. Rowlings zweifellos sehr entgegen – erfolgreicher noch als die Fantasy-Romane J. R. R. Tolkiens oder Michael Endes.
Die Theologin Rahner jedenfalls wertet das Bestsellerwerk der Dichterin Rowling nicht ab, ganz im Gegenteil:
»Joanne K. Rowling gibt (…) ein Versprechen, dass auch dort, wo Narben zurückbleiben, (…) alles gut werden kann, ja, dass sich selbst der Tod für immer bannen lässt. In Rowlings Romanreihe ist dies alles andere als eine naive Hoffnung. Kann man das Böse und am Ende den Tod wirklich besiegen? Ja! Weil – so Rowling – die Liebe jene Kraft ist, ›die wunderbarer und schrecklicher ist als der Tod, als die menschliche Intelligenz, als die Kräfte der Natur.‹ (Potter IV 990) Das Böse kann nicht lieben und das besiegelt letztlich sein Schicksal. Doch auch der Tod behält nicht das letzte Wort.«
»Der letzte Feind, der zerstört werden wird, ist der Tod.« Dieses Paulus-Wort aus dem Ersten Korintherbrief (1 Kor 15, 26) steht auf dem Grabstein von Harry Potters Eltern, die von Lord Voldemort, dem schwarzen Magier, umgebracht worden sind. Als Harry mit Hilfe Hermines das Elterngrab findet und den Bibelspruch liest, wird er ärgerlich:
»Aber sie leben nicht, dachte Harry: Sie sind nicht mehr. Die leeren Worte konnten die Tatsache nicht verhüllen, dass die vermoderten Überreste seiner Eltern unter Schnee und Stein lagen, gleichgültig, unwissend (…) und sah hinunter auf den Schnee, der den Ort vor seinen Augen verbarg, wo die letzten Überreste von Lily und James lagen, die jetzt gewiss nur noch Knochen waren oder Staub, unwissend und gleichgültig ihrem lebenden Sohn gegenüber …« (Potter VII 337)
Die Inschrift des Elterngrabes also kann Harry zunächst nicht verstehen. Doch wie die ›Winnetou‹-Bände Karl Mays – in denen es ebenfalls um das ›mysterium mortis‹ geht – können die Harry-Potter-Bücher als Bildungs- und Entwicklungsromane gelesen werden, auch von anspruchsvollen Erwachsenen.
Harry Potter ist auf dem Reifungsweg, der zugleich ein Glaubens- und Hoffnungsweg ist. Zuletzt soll der Titelheld – bzw. der Rowling-Leser – erkennen, dass die Inschrift des Grabes auf dem Kirchhof zu Godric’s Hollow nicht den biologischen Tod des physischen Körpers meint, sondern den »zweiten Tod« (Offb 20, 6) der Beziehungslosigkeit, des endgültigen Abgeschnittenseins der menschlichen Person von der Urquelle des Lebens.
Sind Harrys tote Eltern wirklich nur Knochen und Staub, »unwissend und gleichgültig ihrem lebenden Sohn gegenüber«? In einem Time-Interview erklärte Joanne K. Rowling, die Bibelstelle 1 Kor 15, 26 sei eine Art Cantus firmus der gesamten Romanreihe. Der Sieg über das Böse bzw. die Zerstörung des Todes – in der Umkehr zur göttlichen Liebe – ist demnach das eigentliche Thema der Harry-Potter-Romane.
Johanna Rahner kommentiert: »Durch alle Bände zieht sich wie ein roter Faden die Erinnerung daran, dass Harrys Mutter durch Hingabe ihres eigenen Lebens ihren Sohn vor der Ermordung durch Voldemort bewahrt hat. Im Endkampf mit Voldemort tritt Harry dieses Erbe an. Denn Harrys liebendes Selbstopfer sucht nicht mehr das eigene Überleben, sondern nur noch das Leben der anderen zu sichern. Er erneuert damit den ›Zauber‹ jener Hingabe für andere, den ihm seine Mutter aus Liebe geschenkt hat.«
Harry Potter überlebt. Aber er lernt, dass nicht die Toten zu bedauern sind, sondern die Lebenden, »vor allem diejenigen, die ohne Liebe leben« (Potter VII 731): ohne Liebe, die das eigene Selbst hintanstellt und sich hingibt für andere.
An das Jesus-Wort dürfen wir denken: »Wer das Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.« (Matth 10, 39) Somit dürfen wir annehmen, dass Harrys Eltern und Harry selbst für immer gerettet werden: in eine Liebe hinein, die größer ist als unser Menschenverstand.
Was ich freilich – als »Postulat der praktischen Vernunft« (Immanuel Kant) – bei all dem voraussetze, ist die Existenz eines transzendenten, alles umfassenden, absolut vollkommenen, seine Geschöpfe unendlich liebenden Gottes. Ohne diese Voraussetzung wäre jede Hoffnung, die über das irdische Leben hinausgeht, ohne Fundament, also hinfällig und nichtig.